Im Sommer sterben (German Edition)
mal sechzehn«, bemerkte Eschenbach und zog die Augenbrauen hoch.
»Fünfzehn«, korrigierte Jagmetti. »Sie ist Schütze.«
»Offensichtlich, wenn sie so gut schießen kann«, witzelte Eschenbach und deutete mit dem halb gerauchten Zigarillo auf die Blätter.
»Schütze im Sternzeichen«, sagte Jagmetti, der nicht zu Späßen aufgelegt war. »Geboren am 10. Dezember.«
»Aha. Und was ist jetzt mit unserer Schützin?«
»Hier.« Jagmetti deutete auf die Blätter. »Von über zwölfhundert Teilnehmenden hat sie zweimal eine fünfunddreißig geschossen.«
»Ist das gut?« Eschenbach hatte keine Ahnung.
»Beim Knabenschießen wird mit einem Sturmgewehr 90 auf A-Scheiben geschossen. Distanz: dreihundert Meter.«
»Aha. Die übliche Distanz also.« Eschenbach kamen seine verzweifelten Versuche am Obligatorischen wieder in den Sinn.
»Jeder Schütze … und auch jede Schützin darf nur einmal schießen. Es werden fünf Schüsse abgegeben.«
»Macht maximal dreißig Punkte«, unterbrach Eschenbach, der wusste, dass die A-Scheibe eine 6er Einteilung hatte.
»Genau. Und für jeden Treffer, also wenn die Scheibe getroffen wird, gibt es noch einen zusätzlichen Punkt.«
»Und das gibt dann die fünfunddreißig«, folgerte der Kommissar wiederum. »Das hat die Hottiger geschossen? Das ist allerdings nicht schlecht.«
»Es geht. Von über zwölfhundert Schützen schaffen das meistens ein paar.«
Eschenbach runzelte die Stirn und dachte wieder an seine eigenen Resultate. »Und wie geht es dann weiter? Wer wird Schützenkönig … oder eben Königin?«
»Die Punktgleichen treten dann noch einmal an. Jeder schießt nochmals dasselbe Programm in einem so genannten Ausstich, bis einer gewinnt. Meistens gewinnt man den Ausstich mit dreißig oder einunddreißig Punkten. Die Nervosität, der Druck. Verstehen Sie.«
Eschenbach verstand es nur zu gut.
»Die Presseleute sind da. Das Lokalfernsehen. Alle beobachten einen. Da schießt keiner das Maximum.«
»Und das Mädchen«, wollte Eschenbach wissen.
»Doris Hottiger schoss nochmals eine fünfunddreißig.«
»Tatsächlich?« Der Kommissar zog nachdenklich an seiner Brissago, blies den Rauch in kleinen Wolken in die einfallenden Sonnenstrahlen und begann allmählich Jagmettis Unsicherheit zu verstehen.
»Ich habe mit den Verantwortlichen gesprochen. Der Schießinspektor, ein gewisser Balz Oberhänsli, konnte sich noch sehr gut an die Hottiger erinnern. Das Mädchen sei ein Phänomen gewesen. Sie wäre weder in einem Jungschützenverein noch in sonst einer Gesellschaft, die das Schießen pflegte, gewesen. Auch hätte sie vom Übungsschießen, das vor dem eigentlichen Anlass stattfinde, keinen Gebrauch gemacht.«
»Kam, sah und schoss. Dann war es eben doch Zufall«, sagte Eschenbach.
Jagmetti sah seinen Chef an. Sah seinen abwesenden Blick durch die Rauchschwaden hindurch und wusste, dass er nicht meinte, was er sagte. Der Kommissar glaubte nicht an Zufälle, schon gar nicht an solche.
»Zufall. Das dachten die auch, sagte mir Oberhänsli. Die ganzen Militärfuzzis und Schwarzpulverfetischisten dort. Die konnten’s einfach nicht fassen. Deshalb haben sie sie gefragt, die frisch gekürte Königin, ob sie es noch mal täte. Noch einmal fünf Schuss. Einfach so zum Spaß … für die Galerie. Fürs Fernsehen. Für die Ungläubigen, die nicht glaubten, was sie sahen. Es nicht glauben konnten, obwohl sie es selbst gemessen und gezählt hatten.«
»Und, hat sie es getan?«
»Ja. Allerdings nur vier Schüsse.«
»Und? Getroffen?«
»Vier Sechser!«
»Und der fünfte Schuss?«
»Nach dem vierten ist sie aufgestanden, hat sich die Krone zurechtgerückt, die sie während der Übung aufgehabt hatte, und dann hat sie gesagt: Der letzte Schuss ist für Geßler.«
»Für wen?«, fragte der Kommissar, der nicht sicher war, ob er es richtig verstanden hatte.
»Für Geßler. Wilhelm Tell hatte doch auch einen Pfeil beiseite gelegt … und als man ihn fragte …«
»Ja, ich weiß. Ich kenn die Geschichte.« Er hatte es doch richtig verstanden. Wilhelm Tell … und dann der letzte Schuss in der hohlen Gasse, der Geßler tötete.
»Ein unglaubliches Mädchen.« Eschenbach, der wie versteinert dagesessen hatte, sprach langsam, nahm die erloschene Brissago aus dem Mundwinkel und legte sie sorgsam in den Aschenbecher auf dem Fenstersims.
»Allerdings. Und ein riesiges Fressen für die Medien. Fräulein Tell titelte die Schweizer Illustrierte und der Verein zur
Weitere Kostenlose Bücher