Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
eine solche gehabt – mehr lieben würde, als er sie liebte.
    War er ein guter Vater gewesen? Damals, als Kathrin knapp fünf Jahre alt und nicht selten zickig gewesen war; lieber mit Puppen als mit Eisenbahnen spielen wollte. Hätte er damals, als er Corina kennen lernte, nicht lieber auch einen Jungen gehabt? Eschenbach konnte sich keine ehrliche Antwort darauf geben. Er wusste es nicht.
    Doris Hottiger sah den Kommissar an, als hätte sie seine Gedanken erraten. Dann erzählte sie weiter; ruhig und besonnen, als spräche sie nicht über ihr eigenes, sondern über ein Leben, von dem sie gelesen oder irgendwie sonst gehört hatte.
    »Mit zwölf schoss ich so gut, dass mein Vater sich anstrengen musste, und mit vierzehn schoss ich regelmäßig besser als er. Zur Anerkennung kam Stolz. Und dabei blieb es. An meinem sechzehnten Geburtstag habe ich aufgehört damit. Es ging mir nicht um die Kränze und die Sportabzeichen, die ich hätte gewinnen können. Es ging mir um etwas anderes. Ich durfte jetzt meine Haare so lang wachsen lassen, wie ich wollte, und Schuhe mit Absätzen und Röcke tragen. Ich durfte abends in die Disco. Kurzum, ich durfte alles tun, was andere Mädchen in meinem Alter auch durften. Darum ging es mir.«
    Eschenbach, der lange aufmerksam zugehört hatte, rieb sich mit beiden Händen die Augen.
    »Das meinten Sie also damals mit dem Geßler.«
    »Vielleicht war es das, ja.« Sie lächelte flüchtig und fuhr sich mit dem Handrücken über die hohen Wangenknochen, als gäbe sie sich selbst die Zärtlichkeit, die sie von ihrem Vater nie erfuhr. »Die Medien haben das völlig falsch aufgefasst. Die wollten eine Heldin. Ich bin aber keine.«
    »Ein Mädchen, das schießen kann, intelligent ist und …« Eschenbach zögerte einen Moment. »Und dann noch so hübsch ist wie Sie? Da ist man schnell mal eine Heldin.«
    »Das mit dem fünften Schuss damals, das war Blödsinn … das ist einfach passiert. Wie bei einem guten Schützen. Er zielt und zielt und während er langsam ausatmet, löst sich der Schuss. So ging es mir. Plötzlich löste sich die Vergangenheit von der Gegenwart. Nach dem vierten Schuss stand ich auf und ging.« Sie saßen jetzt schon über zwei Stunden einander gegenüber, und Eschenbach hatte das Gefühl, dass er festsaß. Dass er in einer Sackgasse steckte und nicht mehr weiterkam.
    Doris Hottiger war in jeder Hinsicht eine außergewöhnliche Frau, intelligent und willensstark. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sich hinter dem, was sie sagte, etwas verbarg. Etwas, das wichtig war und von dem er nichts wusste.
    Wo lag der Schlüssel zu all dem? Wo musste er ansetzen, um es herauszufinden? Bei der fehlenden Liebe, der Kälte des Vaters? Wie war ihr Verhältnis zu Männern? Zu Bettlach im Speziellen?
    Das Leben hatte Narben hinterlassen. Narben von Wunden, an denen man leicht auch hätte verbluten können. Doris Hottiger war nicht verblutet, sondern stark geworden.
    Was sie bisher über Bettlach gesagt hatte, war belanglos. Eine Affäre eben, wie viele andere auch. Suche nach Liebe und Geborgenheit. Vaterersatz vielleicht, mehr nicht. War es das wirklich?
    Eschenbach musste es erraten, und er entschied sich für ein Pokerspiel. »Waren Sie deprimiert, als Bettlach Sie verließ?« Es war ein Schuss ins Blaue. Aber er musste ihn wagen.
    »Bettlach hat mich nicht verlassen. Ich war es, die ging.«
    »Und weshalb?«
    Zum ersten Mal zögerte sie mit ihrer Antwort. Für einen kurzen Moment sah sie den Kommissar an, als fordere sie ihn dazu auf, sich die Antwort selbst zu geben. Und in dem fordernden Blick ihrer blauen Augen lag ein trauriger Schatten.
    Sollte er schweigen? Warten, dass sie den Schlüssel freiwillig herausrückte; oder gab es eine Anschlussfrage? Musste er sie weiter provozieren, mit dem Risiko, dass sie sich dann endgültig verschließen würde? Und wie ein geübter Schütze, bei dem sich der Schuss unerwartet und plötzlich löst, unerwartet, während er langsam ausatmet, sprach er weiter.
    »War es wieder die Kälte des Vaters, die Sie bei Bettlach spürten?«
    »Nein.« Ihre Augen verengten sich und die Schatten verschwanden. »Bettlach war ein Schwein!«
    Eschenbach schwieg. Regungslos saß er da und sah, wie sich ihre Augen senkten.
    Ihre Hände, die zuvor auf den Armlehnen geruht hatten, lagen jetzt auf ihrem Schoß, als wolle sie sich schützen.
    Durch das leicht geöffnete Fenster hörte man das Rauschen des Stadtverkehrs, das, wie das Einfallen der Wellen eines

Weitere Kostenlose Bücher