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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Gleichstellung der Frau feierte sie als neue Jeanne d’Arc. Sie wurde mit Sponsoring-Anfragen nur so überhäuft und in jede Talkshow eingeladen. Sie lehnte alles ab und verschwand kurz darauf wieder in der Versenkung.« Jagmetti sprach jetzt gelöst. Er hatte sich gefangen; saß wieder aufrecht, und die Nervosität, die ihn immer und immer wieder mit der Hand durchs Haar fahren ließ, war gewichen. Es war, als hätte er mit dieser unglaublichen Geschichte Tonnen von Ballast abgeworfen.
    »Und geschossen? Ich meine, hat sie je wieder geschossen?«, fragte Eschenbach.
    »Nein. Vom Alter her hätte sie noch einmal am Knabenschießen teilnehmen können. Aber sie hat sich nie mehr blicken lassen. Auch bei anderen Anlässen nicht, zu denen sie eingeladen wurde. Ich habe jedenfalls nichts mehr gefunden.«

10
    »Ich habe ihn nicht erschossen, wenn Sie das meinen.«
    »Das meine ich aber«, polterte Eschenbach.
    Er saß am runden Besprechungstisch in seinem Büro und rauchte. Die hellgraue Leinenhose klebte ihm an den Beinen und am Hintern. Überhaupt war sie zu eng. Am liebsten hätte er den Knopf am Bund geöffnet und tief durchgeatmet.
    Schräg gegenüber saß Doris Hottiger. Sie trug ein blassblaues Kleid und um den Hals eine Kette mit kleinen, schimmernden Perlen. Sonst keinen Schmuck. Ihre Haut war sonnengebräunt und glänzte unter den Perlen. Auch sie schwitzte.
    Am Morgen, gleich nach dem Gespräch mit Jagmetti, hatte Eschenbach die junge Hottiger zu sich aufs Präsidium beordern lassen. Am Nachmittag, pünktlich um halb fünf, war sie erschienen. Er verhörte sie jetzt schon über eine Stunde lang. Ein wenig Familiengeschichte, die Sache mit dem Knabenschießen und die Affäre mit Jagmetti. Viel mehr kam nicht dabei heraus.
    Ja, schießen konnte sie, schon als kleines Mädchen.
    Die leibliche Mutter war bei der Geburt gestorben und der Vater, Oberst beim Militär, im Olympiakader der Sportschützen gewesen. Einer der Besten zu seiner Zeit. Er hätte lieber einen Sohn gehabt. Doris hatte darunter gelitten. Sie trug bis zur dritten Klasse nur Hosen und eine Kurzhaarfrisur. Einen Bürstenschnitt, um genau zu sein.
    »Jeden zweiten Sonntag hat er mich gebadet. Nicht wirklich liebevoll oder zärtlich. Nein, so wie man Schuhe putzt oder eine Pfeife reinigt. Nach dem Baden hat er mich abgetrocknet. Immer zuerst die Füße, damit es am Boden trocken blieb, dann Körper und Haare. Und zuletzt wurden die Haare geschnitten. Kurz und rücksichtslos. Sonst gäbe es nur Läuse, meinte er. Und wenn man mal Läuse habe, bekäme man sie so leicht nicht mehr weg. Die ganze Nacht habe ich geweint und am Tag, in der Schule, wurde ich ausgelacht. Der kurzen Haare und der roten Augen wegen. Wenn er mich nur ein Mal so liebevoll berührt hätte wie seine Gewehre. Wenn er mit dem Waschlappen nur ein einziges Mal so über meinen Kopf gefahren wäre wie mit dem Polierlappen über den Lauf seiner Matchpistole.«
    Doris Hottiger sprach leise und ohne eine Spur Bitterkeit oder Verachtung.
    »An meinem neunten Geburtstag beschloss ich, schießen zu lernen. Ich begann mich für die Waffen meines Vaters zu interessieren. Für seine Flinten und Pistolen. Doppellader, Repetier- und Luftdruckgewehre. Seine Winchester, Revolver und wie sie alle hießen. Ich wollte lernen, wie man ein Gewehr hält und wie man zielt. Kimme, Korn, Ziel. Einatmen. Ausatmen. Statt nächtelang zu weinen, übte ich den Umgang mit Waffen. Ich machte schnell Fortschritte und wusste bald, wie man die Dinger auseinander nimmt und zusammenbaut; sie reinigt, ölt und einstellt. Ich wurde richtig gut.«
    Ein verlegenes Lächeln streifte ihre Lippen.
    »Ich begleitete meinen Vater zu den Wettkämpfen, beobachtete die Schützen, wie sie sich vorbereiteten, zielten und schossen. Ich hörte hin, wenn sie sich Tipps gaben, und stand daneben, wenn sie die Treffer analysierten und ihre Waffen säuberten oder schmierten. Ich sog alles in mich ein, wie ein gieriger Schwamm, und mit der Zeit bekam ich Anerkennung. Zuerst von den Sportkollegen meines Vaters. Dann auch von ihm selbst.«
    Doris hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach.
    »Es war nicht das, was andere Mädchen von ihren Eltern bekamen; nicht Liebe, die er mir schenkte. Liebe hatte mein Vater nicht zu vergeben. Aber es war wenigstens Anerkennung. Zu mehr war er nicht fähig.«
    Eschenbach hörte schweigend zu. Er ertappte sich dabei, dass er an Kathrin dachte. Er fragte sich, ob er eine leibliche Tochter – hätte er

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