Im Sommer sterben (German Edition)
Weg durch das dichte Blätterdach, das den lauschigen Sitzplatz schützte. Einzelne Tropfen fielen in unregelmäßigen Abständen beinahe geräuschlos zu Boden.
Der Regen reinigt die Luft und Tränen reinigen die Seele, dachte DeLaprey, und es schien ihm, dass es langsam an der Zeit war, den Auflauf aus dem Ofen zu nehmen.
Er war missraten. Zu fad und zu trocken. DeLaprey fragte sich, ob es nicht doch zutraf, dass verliebte Köche das Essen versalzen. Bei Hera schien es ihm umgekehrt. So wie es schmeckte, musste ihr Herz wirklich gebrochen sein.
Die Geschichte, die sie beim Essen auftischte, machte den Auflauf zwar nicht besser, aber weniger bedeutsam. Sie habe Pierre überraschen wollen, sagte sie; dabei kam sie viel zu früh und viel zu unangemeldet und überraschte die junge Frau gleich mit, die bei ihm im Bett lag.
Dann die üblichen Ohrfeigen. Verbale und handfeste. Gefolgt von der Tasche, die gepackt und der Tür, die ins Schloss geknallt worden war.
DeLaprey hatte sich immer gefragt, ob sich dieser Stoff nicht besser für das komödiantische Fach eignen würde als für die ewig gleichen Dramen, die sich täglich nach demselben Strickmuster in den TV-Vorabendserien wiederholten. Jetzt, beim Anblick von Heras roten Augen, war er sich nicht mehr so sicher.
Er hatte Pierre nie gemocht. Dieses Künstlergehabe! Dieser Musikerdünkel und die gestelzte Wichtigtuerei mit seiner Querflöte! Der Frack, mit dem er umherstolzierte und der weiße Kaschmirschal, den er auch im Sommer trug!
Hera aber gefiel sein Gesäusel, seine romantische Ader, wie sie es nannte. Sie konnte ihm stundenlang zuhören und ihn auf dem Klavier begleiten.
Unzählige Male hatte sie in der ersten Reihe gesessen, wenn er mit dem Basler Sinfonie Orchester im Stadtcasino spielte. Und jedes Jahr hatte sie mindestens einmal unbezahlten Urlaub genommen, damit sie auf einer seiner zahlreichen Tourneen an seiner Seite sein konnte.
An Weihnachten, wenn im familiären Kreise gefeiert wurde, fehlte sie meistens. Sie zog es vor, alleine irgendwo in einem Kaff auf dem Land, in irgendeiner Kirche zu sitzen, nur weil Pierre zum fünfhundertsten Mal ein Ave Maria zum Besten gab und es wieder nicht geschafft hatte, ein mittelmäßig bezahltes Engagement sausen zu lassen.
Für sie war Pierre Oliver ein zweiter James Galway. Ein wunderbarer Künstler und Musiker. Ein Jahrhunderttalent. Für Leandro war er der Rattenfänger von Hameln.
Und nun, als alles so gekommen war, wie er es immer vorausgesagt hatte, vermochte er nicht einmal zu triumphieren. Seine Schwester tat ihm Leid. Was für den einen eine Komödie, ist für den andern ein Drama, dachte er. Und obwohl er eine gewisse Erleichterung empfand, war es das Drama, das an diesem Abend die Oberhand hatte.
Schweigend saß er da, goss von Zeit zu Zeit Wein nach und hörte Hera geduldig zu. Immer wieder dieselbe Geschichte mit immer wieder demselben, traurigen Ende. Da capo, al fine.
Um halb drei richtete er ihr das Gästezimmer her, und gegen halb fünf, als er längst schlief, war auch der letzte Schluchzer aus dem Nebenzimmer einem unruhigen Schlaf gewichen.
Es war kurz vor neun, als das Telefon läutete. Schon das zweite Mal an diesem Morgen, und es dauerte eine Weile, bis Leandro DeLaprey, noch völlig benommen von zu viel Wein und zu wenig Schlaf, den Hörer abnahm.
»Sind Sie Herr DeLaprey?«, fragte eine Männerstimme, die er noch nie zuvor gehört hatte.
»Ja.« Seine Stimme klang heiser.
»Ist Ihnen eine Hera DeLaprey bekannt?«
»Ja. Sie ist meine Schwester. Mit wem spreche ich bitte?«
»Adrian Melzer. Ich bin Polizeibeamter.«
DeLaprey schluckte trocken. Er stand mit dem schnurlosen Hörer in der Küche und wollte gerade ein Glas unter den Wasserhahn halten. Es kratzte im Hals.
»Wissen Sie, wo Ihre Schwester im Moment ist?« Der Beamte war sehr freundlich.
DeLaprey zögerte einen kurzen Moment. Doch was sollte er lügen. Er sah dazu keinen Anlass. »Sie ist hier, bei mir. Sie schläft noch.«
»Wissen Sie, in welchem Verhältnis sie …« Der Beamte schien unsicher zu werden. »Aber vielleicht sollte ich das besser Ihre Schwester fragen. Könnte sie nicht selbst kurz ans Telefon kommen?«
»Sicher. Warten Sie einen Moment.« DeLaprey ging nachdenklich hinüber zum Gästezimmer und klopfte an die Tür. Ohne auf eine Reaktion zu warten, trat er ein. Kein Klopfen der Welt würde Hera nach dieser kurzen Nacht zum Aufstehen bewegen. Er sah nur ein paar von ihren Haarsträhnen, die wie
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