Im Sommer sterben (German Edition)
Gespräch mit Doris Hottiger hatte ihm zugesetzt. Er verließ kurz nach ihr das Präsidium und ging auf den wenig befahrenen Seitenstraßen entlang der Sihl hinunter zum See. Ihm war, als wate er durch knöcheltiefen Morast, als klebe ihm der ganze Dreck der Welt an den Schuhen. Was war das nur für eine Welt, in der erwachsene Männer hilflose kleine Kinder missbrauchten?
Er spürte, wie ein Gefühl von Verachtung und Hass in ihm hochkam, wie seine Schritte fester und sein Atem schwerer wurden. Würde dieser Hass ausreichen, um zu morden? Gab es ein Recht, die Existenz derer auszulöschen, die unschuldige Kinder ihrer Existenz beraubten? War es nicht auch Mord, wenn das Leuchten in den Augen eines Kindes für immer ausradiert wurde? Und wenn es nicht Mord war, was war es dann?
Eschenbach fragte sich, wie viele unterschiedliche Antworten es dazu wohl geben würde. Wie würde die Antwort des Richters lauten, wie die des Rächers? Welches Credo stünde im psychiatrischen Gutachten des Peinigers, und welche Antworten fänden sich im Bericht des Therapeuten des Opfers? Und er, welche Antworten hatte er auf diese Fragen? Als Polizist? Als Mann oder als Vater einer sechzehnjährigen Tochter? Gab es in diesem Labyrinth subjektiver seelischer Abgründe überhaupt so etwas wie eine objektive Richtigkeit? Je länger Eschenbach darüber nachdachte, desto mehr verschwammen Recht und Unrecht, Ursache und Wirkung.
Als er schließlich auf einer Holzbank unten am Wasser saß, Bissen für Bissen eine Bratwurst in sich hineindrückte und mutlos auf das schwarze Wasser sah, war er froh, dass nicht er es war, der darüber zu richten hatte.
11
Es regnete in Strömen. Die Tropfen schlugen auf die erst kürzlich ausgebesserten Pflastersteine. Das Wasser floss entlang der Fugen, die wie die Linien eines komplizierten Schaltplans den Boden durchfurchten.
Der Platz rund um das Basler Münster war leer, als das Taxi in die Münstergasse einbog und wenig später vor einem alten Riegelhaus am Münsterberg anhielt. Der Taxifahrer stieg bei laufendem Motor aus, öffnete fluchend einen alten Regenschirm und wuchtete eine große, lederne Reisetasche aus dem Kofferraum. Er übergab die Tasche seinem Fahrgast, der mittlerweile auch ausgestiegen war. Ohne Regenschirm. Er bedankte sich für das großzügige Trinkgeld und verabschiedete sich.
»Wird Ihrer Kundenkarte belastet, Herr DeLaprey«, fügte er seinem Gruß hinzu, stieg wieder in das Fahrzeug und fluchte ein letztes Mal; diesmal laut: »Scheißwetter, elendes.« Er warf, völlig durchnässt, den Schirm auf den Beifahrersitz und steuerte den alten Mercedes sicher vom Bürgersteig herunter, zurück auf die überschwemmte Fahrbahn.
DeLaprey stand im Hausflur und fingerte nach den Schlüsseln, die er im Außenfach der Ledertasche vermutete. Nichts. Er schwor, sich das nächste Mal besser zu konzentrieren, wenn er die Dinger verstaute.
Außentasche Regenmantel. Innentasche Regenmantel. Nichts. Er zog den Regenmantel aus; hielt ihn wie einen nassen Hund von sich gestreckt. Es tropfte. Mit der anderen Hand suchte er weiter. Außentasche Jackett. Innentasche Jackett. Wieder nichts. Er legte den Mantel auf den Holzboden, neben die Pfütze. Schließlich fand er sie. In den Jeans, die zusammengelegt zuunterst in der Tasche lagen. Er drehte den Schlüssel, öffnete die Tür und trat ein.
In der ganzen Wohnung brannte Licht. Neben der Garderobe standen ein Paar Damenschuhe, und aus der Küche vernahm er das leise Brummen des Dampfabzuges. Durch die halb angelehnte Tür sah DeLaprey den kastanienbraunen Haarschopf seiner Schwester. Sie hatte ihr Haar mit einem Gummi nach hinten gebunden und war gerade dabei, ein Auflaufgeschirr in den Backofen zu schieben. Typisch Hera, dachte DeLaprey. Er klopfte an die angelehnte Tür und begleitete sein Eintreten mit einem leisen »Hallo«.
»Leandro!«, war der freudige Ausruf, der zurückkam. Seine Schwester strich die Hände an der Schürze ab, kam auf ihn zu und umarmte ihn.
»Ich bin bei Pierre ausgezogen«, sagte sie. »Scheißtyp«, war noch zu hören, und dann folgte langes, leises Weinen, das nur hier und da von einzelnen, kurzen Schluchzern unterbrochen wurde.
Eine kleine Unendlichkeit standen beide da. Er strich ihr über die Haare. Immer wieder, wie bei einem Kind, das es nach einem schlechten Traum zu beruhigen galt.
DeLaprey schaute nach draußen. Es regnete immer noch. Auf der Laube, die direkt an die Küche grenzte, fand der Regen längst den
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