Im Sommer sterben (German Edition)
Zürich zur Schule.«
»Eine schöne Stadt. Da wäre ich auch gerne zur Schule gegangen. Meine Eltern sind früh verstorben, und mein Onkel, bei dem ich aufwuchs, wollte für mich nur das Beste. Hätte auch gerne ein Zuhause gehabt. Aber man kann sich das nicht aussuchen.«
»Wissen Sie etwas über die Familie des Verstorbenen?«, fragte Eschenbach.
»Seinen Vater hat er nie erwähnt, keine Ahnung, und seine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, soviel ich weiß.«
»Und sonst? Ich meine Geschwister, Lebenspartner, Verwandte?«
Sie verzog ihren Mund zu einem Schmunzeln, das sich treppenförmig nach unten zog und erst am erstaunlich straffen Dekolleté zerschellte. »Sehen Sie«, flüsterte sie und machte eine Kopfbewegung nach vorne. »Die Silbermähne dort vorne … das ist sein älterer Bruder.«
Er nickte. »Und seine Frau … ich meine seine geschiedene Frau, ist sie auch hier?«
»Ich habe sie nicht gesehen … würde mich auch wundern, wenn sie hier wäre.«
»Weshalb?«, wollte Eschenbach wissen.
»Das ist eine üble Geschichte.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Bei den meisten Trennungen ist es so, dass man sich irgendwann wieder versteht. Man trifft sich wieder, redet über dies und das und stellt fest, dass man zu wenig miteinander gesprochen hat. Und nicht selten versteht man sich dann besser als früher … als man noch zusammenlebte.«
Eschenbach nickte. Er verstand, wovon seine fettleibige Nachbarin sprach. »Und bei Bettlach und seiner Frau war das nicht so?«
»Nein. Die Trennung kam urplötzlich; aus heiterem Himmel sozusagen. Über Nacht zog sie aus, auf und davon. Sie haben seither nie mehr miteinander gesprochen, sich nie mehr getroffen. In den Erbschaftsangelegenheiten ließ sie sich durch einen Anwalt vertreten. Ich glaube, sie lebt heute in Paris.«
»Wissen Sie, unter welchem Namen?«
»Marchand. Eveline Marchand. Sie hat ihren Mädchennamen wieder angenommen.«
Dass sie ledig Marchand hieß, hatte Eschenbach bereits von seinem Informationsdienst erfahren; ebenso lag die Vermutung nahe, dass sie unter diesem Namen irgendwo ein neues Leben angefangen hatte. Nur wo, das war die Frage. Dass es Paris war, lieferte die Erklärung, weshalb die Suche bisher erfolglos geblieben war. Es würde eine Weile dauern, bis man jemanden mit einem gängigen französischen Namen in einer Metropole wie Paris ausfindig machte. »Für eine Freundin aus der Jugendzeit scheinen Sie über die Familienverhältnisse aber gut informiert zu sein«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
»Ach, wissen Sie …« Statt zurückzuzwinkern rollte sie wieder mit den Augen. »Philipp rief mich häufig an. Immer wenn er etwas brauchte oder loswerden wollte. Ich war so was wie sein Mistkübel. Vielleicht liegt es ja an mir.« Sie deutete mit dem Kinn resigniert auf die Fettberge darunter. Es wackelte auf allen Ebenen. »Jeder trägt halt so seine eigene Last.«
Eschenbach wusste einen Moment nicht, ob er das wörtlich verstehen sollte. »Und welche Last trug Philipp Bettlach?«
In dem Moment drehte sich eine Dame aus der vorderen Bank zu ihnen um. Sie funkelte mit Diamantencollier und verächtlichem Blick, zischte ein aufgebrachtes Psst durch die falschen Zähne und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich muss nachher gleich wieder weg«, flüsterte sie, wobei sie sich zu ihm hinüberlehnte und in eine beängstigende Schräglage geriet. Eschenbach spürte ihren Atem an seinem Ohr und roch den Moschus ihres schweren Parfüms. »Aber rufen Sie mich doch an.« Zwischen den wulstigen Fingern war eine Visitenkarte eingeklemmt, die sie ihm entgegenstreckte. PD Dr. Rania Oberholzer, Parodontologie & Brückentechnik, Institut für Zahnheilkunde, Universität Bern stand auf der Karte.
Er bedankte sich und versicherte, dass er sich melden würde.
Nach dem Tennisclub waren der Yachtclub und später noch der Golfclub an der Reihe. Eschenbach wurde den Verdacht nicht los, dass die Clubs für solche Anlässe bereits vorgeschriebene Reden besaßen, die sie lediglich mit den persönlichen Daten des jeweils Verstorbenen versahen.
Auf den mittleren und hinteren Bänken saßen auffallend viele junge hübsche Frauen. Doris Hottiger konnte er allerdings nirgends ausmachen.
Als Eschenbach aus der Großmünsterkirche hinaus ins Freie trat, stand sie plötzlich vor ihm: mit forschem Blick und einer alten braunen Ledermappe unter dem Arm.
Nicht auch noch die Presse, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte keine Lust, sich mit
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