Im Sommer sterben (German Edition)
seinen Kartenstoß. Er war froh, dass er wenigstens das zustande brachte. Gabriels Herzen konnten ihm gestohlen bleiben. Das Dreierblatt hatte er auch vergessen anzugeben, aber das hatte offenbar keiner gemerkt. »Hundertdrei … und der letzte Stich macht hundertacht«, zählte er. »Immerhin, hätte auch schlechter laufen können.«
»Wir hätten das Spiel machen müssen! Mit diesen Karten …«, sagte Christian und sog nervös an seiner Marlboro. Es war nicht das Spiel, das ihn nervös machte. Christian war immer so; immer auf hundertachtzig. Firmenübernahmen, Fusionen und das ganze Zeug; auf Dauer war das nicht gesund. Er lebte in Scheidung, seine Frau in seiner Villa, und die zwei Kinder im Internat. Geld macht nicht glücklich, aber ohne Geld wäre Christian noch viel unglücklicher gewesen.
Eschenbach mischte die Karten, gab den Stoß Gregor, der ihn teilte, und dann ging es wieder von neuem los.
Gregor Allensbach war das pure Gegenteil von Christian Pollack. Klein, fast ein wenig gedrungen. Der Vollbart war ein Überbleibsel aus den Achtundsechzigern, und die Hängepfeife war dazugekommen, als er wegen einer Sehnenscheidenentzündung die Selbstgedrehten nicht mehr selbst drehen konnte. Er war die Gemütlichkeit in Person.
Die drei kannten sich aus der Zeit, als sie gemeinsam das Gottfried-Keller-Gymnasium in Zürich besucht hatten. Die drei Musketiere – alle für einen, einer für alle. Egal, welches Fach, ob Mathe, Geographie oder Latein, einer war immer gut gewesen. Die andern schrieben ab, kopierten oder mogelten sich durch.
Gregor war immer noch dort. Allerdings mogelten jetzt seine Schüler, und er hätte es eigentlich ahnden müssen, was er so gut wie nie tat. Bescheißen sei Charaktersache, meinte er, und wer nichts lerne, sei selbst schuld. Das waren seine Lieblingssätze zu diesem Thema. Zumindest, was das Kartenspiel anging, hatte Christian ein wachsames Auge, und Gregor hielt sich mehrheitlich an den zweiten seiner Leitsätze.
Zweimal im Monat spielten sie Karten bei Gabriel im Schafskopf . Christian kannte ihn vom Militär; er war Küchenchef in seiner Kompanie gewesen.
Als sie vor über zehn Jahren damit anfingen, sich zu treffen und Karten zu spielen, war der Schafskopf eine Spelunke im Seefeldquartier gewesen. Holztische und Bretterboden. So war auch das Essen. Gutbürgerlich und schnörkellos. Es gab die beste Rösti und das beste Geschnetzelte in ganz Zürich. Kutteln, die ein Traum waren und den legendären Schafskopf – der eigentlich ein Kalbskopf war und den man vorbestellen musste.
Über die Jahre wurde das Essen feiner, und die Gäste auch. Es gab weiße Tischtücher und Stoffservietten; Silberbesteck und Kristallkaraffen. Es fanden die besten Weine den Weg in den Keller, und es hagelte Lob und Hauben. Siebzehn Punkte kamen von GaultMillau und ein Stern von Michelin. Es hätte sicher noch mehr Punkte und Sterne gegeben, wenn der derbe Holztisch mit der eingelegten Schieferplatte, der seit Jahren im hinteren Teil des Restaurants in einer gemütlichen Ecke stand, endlich abtransportiert worden wäre; und wenn nicht mindestens zweimal im Monat vier illustre Herren an ebendiesem Tisch Karten gespielt hätten.
Gabriel ging das alles am Arsch vorbei, wie er sagte. Hauben hin, Sterne her. Wer wusste schon, was die morgen schreiben würden. Und wenn dann alle wegzögen, den Sternen und Hauben hinterher, wie läufige Hündinnen, dann hätte er wenigstens noch die paar Freunde, die kämen. Freunde blieben eben Freunde. So blieb auch der Tisch mit der eingelassenen Schieferplatte, auf der sie gerade mit weißer Kreide den laufenden Spielstand notierten.
Eschenbach spielte so hundslausig weiter, wie er begonnen hatte. Christian rauchte seine Marlboros und versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Die unbeschwerte Runde tat allen gut. Keiner fragte den anderen aus, jeder erzählte, was er erzählen wollte, und schwieg, wenn ihm nach Schweigen zumute war.
Gabriel schnitt Bündnerfleisch und Salsiz auf, und als die meisten Gäste das Lokal gegen elf verlassen hatten, machte er noch eine Rösti mit Spiegelei; wie früher, als im Lokal alle Tische so aussahen wie der, an dem sie spielten.
Eschenbach hatte dankend abgelehnt, als Christian ihn nach Hause fahren wollte. Es regnete nicht mehr, und der kleine Fußmarsch tat ihm gut. Nach dem Bellevue folgte er dem Limmatquai bis zur Münster-Brücke. Er widerstand der leisen Idee, noch einen Abstecher ins Niederdorf zu machen. Es
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