Im Sommer sterben (German Edition)
war halb zwei und würde in einer mittleren Katastrophe enden. Nicht auch noch das. Er hatte völlig vergessen, Corina anzurufen.
Er hörte die Nachricht auf seinem Handy. Sie klang gereizt; hatte etwas erzählt von Fönstürmen und blauem Himmel, von Muskelkater, den sie vom Biken hatte, und von Kathrin, die vom Discofieber gepackt worden war.
Als er die schwere Haustür hinter sich ins Schloss zog und die Holztreppe in ihre gemeinsame Wohnung hochstieg, hatte er sich damit abgefunden, dass sämtliche Spuren, die auf Bettlachs pädophile Neigungen oder Machenschaften hingewiesen hätten, restlos verwischt waren.
Nach dem Anruf von Bucher hatte er mit dem Offizier der Spurensicherung telefoniert. Sie hätten in die Videos reingeschaut, hatte man ihm versichert. Allerdings ohne dabei etwas entdeckt zu haben. Auch den PC hätten sie sich vorgenommen und nichts Verdächtiges gefunden. Eschenbach hatte es nicht glauben wollen und einen Spezialisten der hausinternen IT aufgeboten, um mit ihm den PC von Philipp Bettlach nochmals zu inspizieren. Der war so leer wie eine Eishockeyhalle im Sommer. Jemand habe die Festplatte ausgetauscht.
Der Spezialist von der IT meinte, dass sich bestehende Daten nie vollständig löschen ließen. »Gelöschte Daten finden wir in der Regel«, hatte er gesagt. »Aber der hier hat ganze Arbeit geleistet. Neue Festplatte … da können wir lange suchen.« Der Mann hatte sein Spezialisten-Lächeln aufgesetzt.
Eschenbach fiel in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von riesigen Computerprozessoren, die wie durch Zauberhand einen Turm vom Großmünster in Nichts auflösten und das Seebecken mit Bündnerfleisch füllten. Hunderte von PCs standen vor dem Waisenhaus in einer Schlange und wollten ihre Daten zurück. Strömender Regen spülte abgewickelte Videobänder entlang den Bordsteinen und schwemmte sie durch vergitterte Abzugskästen in den dunklen Abgrund.
Um halb sechs wachte er schweißgebadet auf, und nachdem er vergeblich versucht hatte, wieder einzuschlafen, holte er die Zeitung aus dem Briefkasten und ließ sich ein Bad einlaufen.
16
Die Großmünsterkirche war gut besetzt. Die Orgel dröhnte durch das Mittelschiff, und der Hall brach sich an Fenstern und Mauern. Die Akkorde, die von den mächtigen Orgelpfeifen abgefeuert wurden, mischten sich zu einem traurigen Durcheinander.
Andächtig saßen die Leute in überwiegend dunkler Kleidung auf den Bänken. Gesenkte Köpfe und gefaltete Hände. Einige schienen zu schlafen, andere waren kurz davor.
Die Trauerfeier war auf zehn Uhr angesetzt worden.
Eschenbach saß in einer der hinteren Reihen. So konnte er ungehindert das Geschehen überblicken und die Menschen beobachten, die mit Philipp Bettlach in Verbindung gestanden hatten.
In der ersten Reihe leuchtete Dr. Bettlachs silberne Mähne, neben ihm saß seine Sekretärin. Eschenbach erkannte sie an ihrem Profil; an den scharf geschnittenen Gesichtszügen mit den hohen Wangenknochen. Abgesehen von den beiden war in der ersten Reihe, in der üblicherweise Familienangehörige Platz nahmen, niemand mehr. Eschenbach fiel auf, dass er von der Familie, die entweder tatsächlich nicht vorhanden oder aus anderen Gründen abwesend war, so gut wie nichts wusste.
Neben dem Kommissar saß eine Frau mit fassähnlicher Figur und dreifach hängendem Kinn. Außer einer bleichen, fast durchsichtig schimmernden Haut trug sie ausschließlich Schwarz: Haare, Wimperntusche, Lipgloss und Nagellack eingeschlossen. Ihre pummeligen Hände lagen übereinander auf dicken Schenkeln, die von schwarzem Cord zusammengehalten wurden.
Der Präsident des örtlichen Lions Clubs hielt eine schwülstige Rede.
Eschenbach schenkte seiner Nachbarin ein Lächeln, das prompt mit zitternden Kinnrouladen erwidert wurde.
»Sind Sie ein Freund des Verstorbenen?« Die makellos weißen Zähne irritierten den Kommissar. Ihm war aufgefallen, dass bei Menschen mit bleicher Hautfarbe Zähne leicht gelblich schienen. Ihre funkelten wie Chinaporzellan.
»Ich bin Polizeibeamter. Ich untersuche den Fall … bin sozusagen dienstlich hier.«
»Aha.« Sie rollte anerkennend mit den Augen.
»Und Sie? Wie standen Sie zum Verstorbenen?«
»Ich bin eine Jugendfreundin«, sagte sie lächelnd. »Kenne ihn seit der Zeit, als wir zusammen im Internat waren.«
»Zuoz?«, fragte Eschenbach. Christian hatte davon erzählt. Es war das einzige Internat, dessen Namen er kannte.
»Nein, Raschnitz. Waren Sie in Zuoz?«
»Nein. Ich ging in
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