Im Sommer sterben (German Edition)
jetzt?«, fragte Jagmetti, den es wunderte, wie es um die militärische Disziplin und das Schneiden von Fingernägeln stand.
»Als ich mich weigerte, haben sie mir gesagt, dann soll ich halt eine Faust machen, wenn der Oberst kommt.« Er machte mit der rechten Hand eine Faust und schüttelte dabei den Kopf. »Dabei habe ich gar nichts gegen den Herrn Oberst.«
»Warum sind Sie überhaupt hier?«, fragte Jagmetti. »Spielen Sie doch in der Militärmusik … die brauchen doch auch Gitarristen. Machen immer mehr auf Bigband und so.«
»Ich spiele keine Marschmusik.«
»Aha.« Jagmetti musste schmunzeln. »Pazifistische Gründe?«
»Nein, musikalische.«
»Und was spielen Sie denn, wenn ich fragen darf?« Diesmal konnte sich Jagmetti ein Lachen nicht verkneifen.
»Für mich am liebsten Jazz. Aber von dem kann man nicht leben. Zumindest nicht gut. Drum mache ich, was gerade angesagt ist. Meistens Studioaufnahmen. Tourneen sind mir zu anstrengend.«
»Studioaufnahmen?«, fragte Jagmetti, der sich nicht vorstellen konnte, dass der Goldzahn auch nur das schäbigste Tonstudio je von innen gesehen hatte. Von Tourneen ganz zu schweigen.
»Bevor ich hier in diesen Wiederholungskurs eingerückt bin, haben wir in London die neue CD von Phil Collins aufgenommen.«
»Sie meinen den Phil Collins?« Jagmetti sah ihn ungläubig an.
»Meinten Sie, ich würde wegen meinen Fingernägeln so ein Theater machen, nur um mit ein paar Freunden etwas von Bob Dylan zu klimpern? Das meinten Sie doch, oder?« Die Büroordonnanz schien sichtlich enttäuscht.
»Um ehrlich zu sein … irgendwie ja.«
»Das habe ich schon gemerkt.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Das ist ja gerade das Problem. Das meinen alle hier.«
»Wundert Sie das?«, fragte Jagmetti, der nicht recht wusste, was er von der Geschichte halten sollte.
20
Eschenbach hatte geschlafen wie ein Murmeltier.
Als er morgens um halb sieben von Motorengeräusch geweckt wurde, wusste er zuerst nicht, wo er war. Straßenlärm tönt überall gleich, dachte er.
Das kleine Hotel, das Rosa Mazzoleni für ihn ausgesucht hatte, lag an der Rue de Lille, ein paar Häuserblocks von der Seine entfernt. Sie hatte es aus einem Führer: Pariser Hotels mit Charme . Ähnliche Führer besaß sie von London, Brüssel, München, Venedig und noch von einem Dutzend weiterer Städte. Frau Mazzoleni hatte ihm aus dem Internet Hotelansicht, Lageplan und Preisliste ausgedruckt. Auch vergaß sie nicht, darauf hinzuweisen, dass Eschenbach unbedingt in den Louvre oder ins Musée d’Orsay gehen müsse; natürlich nur, wenn er Zeit dazu fände – beide lägen nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt.
Rosa Mazzoleni war, wenn es um fremde Städte und Länder, um Kulturdenkmäler, Museen und Kirchen ging, nicht mehr zu bremsen. Die Ferne war ihre Heimat. Sie reiste, wann immer sie Zeit dafür fand, und Eschenbach hätte, wäre er nicht so eigennützig gewesen, ihr längst vorschlagen müssen, ein Reisebüro zu eröffnen. Rosa hätte im Präsidium und später, nachdem es sich herumgesprochen hatte, auch in der Stadtverwaltung genügend Kundschaft gefunden, um ein gut gehendes Büro betreiben zu können. Aber er brauchte sie. Und weil er wusste, dass sie nur ihm zuliebe blieb, nahm er in Kauf, dass die Leute fast täglich anriefen und sie um Rat baten. Sie wusste, wer wohin in die Ferien fuhr, in welchen Hotels der Stadtpräsident übernachtete, wenn er dienstlich oder privat in Brüssel, Paris oder London weilte. Sie kannte die Lokale, in denen seine Kommissare speisten, wenn sie für einen Wochenendtrip ins Ausland flogen. Schließlich waren es ihre Empfehlungen; und immer öfter kam es vor, dass sie die Reisen auch selbst organisierte. Es war der Teil ihrer Arbeit, über den sie kaum sprach. Sie tat es diskret, ohne viel Aufhebens und ohne dass ihre reguläre Arbeit darunter litt. Sie nahm kein Geld, das wusste Eschenbach; nur hin und wieder einen Blumenstrauß – und natürlich Ansichtskarten! Sie hingen überall: am Kühlschrank in der Küche, an den Türen und Schränken. Sogar am PC hatte sie welche kleben. Es war ein Mosaik aus bunten kleinen An- und Aussichten. Und manchmal, wenn graue Aktenberge ihre gähnende Amtlichkeit ausbreiteten, entfloh Rosa Mazzoleni irgendwohin; hörte das Rauschen des Meeres oder die Glocken von Notre-Dame.
Eschenbach entschloss sich, einen kleinen Morgenspaziergang zu unternehmen. Er duschte, zog das frische weiße Hemd an, das er in der Reisetasche mitgenommen
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