Im Sommer sterben (German Edition)
abgeschlagen hatte. Er hatte das einmal gesehen, als Kind auf einem Bauernhof. Es hatte ihn lange verfolgt, das Bild des Huhns, das ohne Kopf davonflog. Es ist irgendwie unwirklich, wenn Leben nur noch aus Mechanik besteht. Er überlegte, wie weit er käme, würde er jetzt einen Herzinfarkt erleiden. Würde es bis Paris reichen? Seine Schläfe hämmerte.
Er nahm das weiße T-Shirt, das er als Schlafanzug vorgesehen hatte, aus dem Gepäcksack und wischte sich Gesicht und Hals ab. Es roch nach dem Gewebeveredler, den Corina seit kurzem verwendete. Kathrin hatte darauf bestanden, der alte war ihr zu blumig. Ein Altweiberduft, wie sie es bezeichnete. Sie wollte etwas Dezentes oder Herbes, oder eine Mischung aus beidem. Eschenbach schnupperte an dem Stoff und fand den Geruch weder dezent noch herb; es roch nach Veilchen – oder waren es doch Rosen? Jetzt, da sich sein Schweiß, vermischt mit einem Rest seines Rasierwassers darin festsog, hatte es was. Nicht dezent zwar, aber herb.
Er spürte, wie er seine beiden Frauen vermisste, nahm sein Handy aus der Tasche und wählte die Engadiner Nummer aus dem Speicher. Eschenbach blieb bei einer französischen Automatenstimme hängen. Die Vorwahl für die Schweiz war nicht mitgespeichert, und ihm fiel auf, wie wenig er beruflich ins Ausland reisen musste. Eigentlich hätte er für seinen Ausflug nach Paris eine schriftliche Bewilligung von Kobler gebraucht.
Grenzüberschreitende Ermittlungen waren ein Kapitel für sich. Aber da er lediglich einer Einladung folgte, konnte man bei seinem Besuch in Paris kaum von Ermittlungen sprechen. Auch hatte er weder Dienstausweis noch sonst welche Erkennungsmarken bei sich. Von der Dienstwaffe ganz zu schweigen. Die war immer noch beim Büchsenmacher, und weil er sie nie bei sich trug, blieb sie meistens auch dort, bis zum nächsten obligatorischen Schießtest.
Als er die Engadiner Nummer nochmals wählte, diesmal mit der Vorwahl für die Schweiz, war besetzt. Corina oder Kathrin? Es konnte bei beiden länger dauern. Er legte das Handy beiseite und kramte einen Stapel Zeitungen und Zeitschriften aus dem Gepäck. Er hatte sich in Zürich damit eingedeckt und genoss es, gemütlich dahinrollend im Blätterwald zu stöbern und einen seiner gekrümmten Zigarillos zu paffen.
Er dachte an das Telefongespräch, das er am Nachmittag mit Eveline Marchand geführt hatte. Sie hatte eine helle, klare Stimme, wie sie eigentlich nur bei gesanglich geschulten Menschen, typischerweise bei Sopranistinnen, vorkam. Er wusste ihren Beruf nicht, konnte sich anhand ihrer Stimme aber gut vorstellen, dass sie sang. Beruflich oder vielleicht auch nur privat in einem Chor. Bachkantaten oder die Requien von Händel dürsteten geradezu nach solchen Stimmen. Er sagte ihr, dass er am Morgen beim Begräbnis ihres Mannes gewesen sei. Sie korrigierte ihn höflich und sagte Exmann , wobei sie »marie de mon ancien vie« noch hinzufügte. Sie hätte von ihrem Schwager gehört, dass er die Ermittlungen leite und »un homme très sympa« sei. Eschenbach hatte sich gefragt, warum Schwager und nicht Exschwager. Vielleicht folgten Ehemann und Schwager nicht derselben Vergangenheitslogik.
Sie würde gerne mit ihm über einige Dinge sprechen, die ihren Exmann beträfen. Sie wären jetzt, da er tot sei, in gewisser Weise reif geworden. Nicht am Telefon, meinte sie, aber »entre nous«. Und da sie Paris nur ungern verließe, wäre sie ihm dankbar, er käme auf einen kleinen Besuch vorbei.
Obwohl sie akzentfrei Schweizerdeutsch sprach, hatte ihre Stimme etwas Charmantes. Vielleicht lag es am Tonfall, an der Intonation, wie sie die Sätze modulierte, oder an der Feinheit ihrer Stimme. Vielleicht hatte er auch nur Fernweh nach der Stadt an der Seine, die er schon lange wieder einmal besuchen wollte.
Sein Handy fiepte. Auf dem Display sah er die Nummer, die vor einer Dreiviertelstunde noch besetzt war.
»Du hast sicher ein paar Mal probiert.« Es war Corina, und Eschenbach fand, dass auch ihre Stimme etwas Charmantes hatte.
»Du glaubst nicht, wo ich gerade bin.«
»Sag’s mir.«
»Rate mal.«
»Es ist jetzt acht …« Sie überlegte. »Dann bist du entweder noch im Büro oder bei Gabriel im Schafskopf.«
»Bei Gabriel waren wir gestern. Soll ich dir eine Auswahl geben …«
»Sag mir nur nicht, dass du diese dämlichen Ratespiele jetzt plötzlich toll findest. Du regst dich doch immer auf, wenn unter dem Deckmantel von Bildung …«
»Lotto gespielt wird. Genau. Ich
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