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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Jahre rückwärts zählen. »Das muss im Frühjahr neunundsiebzig gewesen sein. In London. Ich hatte gerade mein Studium an den Nagel gehängt und jobbte in einer kleinen Galerie. Mein Vater wollte, dass ich entweder weiterstudiere oder zurück nach Zürich komme. Sonst würde er seine monatliche Überweisung einstellen, meinte er. Ich blieb, und er stellte ein.«
    Eschenbach, der aufmerksam zuhörte, biss in ein Croissant. Noch lieber hätte er es vorher in den Kaffee getunkt.
    Eveline Marchand lächelte zufrieden und erzählte weiter.
    »Bei Lievercoed & Westingfield fand ich meinen ersten Job. Das war damals noch ein Geheimtipp in der Szene. Wir hatten gute Kontakte zur amerikanischen Pop-Art-Szene: Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Keith Haring. Das waren Typen, sage ich Ihnen …«
    Eschenbach nickte. Er hatte die Namen schon gehört und mochte die Bilder, wenngleich er es übertrieben fand, was die Leute heute dafür bezahlten.
    »Obwohl die Jungs in Amerika bereits gefeiert wurden … in Europa wollte es nicht recht anlaufen. Der zweite Ölpreisschock, die Wirtschaftskrise … wie gesagt, eigentlich lief es überhaupt nicht. Es lief so schlecht, dass Westingfield mich die ersten Monate mit Bildern aus dem eigenen Fundus bezahlt hat. Aus heutiger Sicht muss ich ihm dankbar sein …« Sie lächelte. »Aber damals … ich konnte schließlich mit den Bildern nichts berappen. Also zog ich in eine kleinere Wohnung, unten bei den Docks. Genau gesagt war es ein Loch. Warmes Wasser gab es keines, und der Gasofen lief nur, wenn er Lust oder Gas hatte. Meistens hatte er nichts von beidem.«
    Eveline Marchand war eine meisterhafte Erzählerin. Sie mimte das Zischen des Gasofens, wenn er doch einmal lief, gestikulierte mit ihren feingliedrigen Händen und zog, wenn sie merkte, dass sie vom Hundertsten ins Tausendste kam, verlegen ihre Strähnen zurecht.
    Eschenbach litt mit ihr, als keiner etwas kaufen wollte; fror mit ihr, als der Ofen versagte und freute sich, als sich schlussendlich dann doch alles zum Besten fügte. Er ließ sie gewähren, vom eigentlichen Thema abschweifen, hörte zu und schwieg.
    Es schien ihm, als gäbe sie diesen Tagen und Wochen ihres Lebens jenes überproportionale Gewicht zurück, das glückliche Momente in der Erinnerung für sich vereinnahmen.
    »Johannes war einer meiner ersten Kunden. Er war ausgesprochen gut aussehend und auf eine leise Art charmant. Er hatte einen phänomenalen Riecher für Trends in der Kunst … und was für mich damals rein beruflich wichtig war, er hatte Geld. Ein paar Mal lud er mich zum Essen ein. Ich glaube, er tat es mehr aus Gründen des Anstands und der Bilder wegen, denn aus Interesse an mir. Ich machte mir nichts vor, auch wenn ich ihn mir gut als Liebhaber hätte vorstellen können.« Sie lächelte und deutete auf den frischen Kaffee, den das Dienstmädchen hingestellt hatte. »Diesmal trinken wir ihn, solange er warm ist. Bitte bedienen Sie sich, Herr Kommissar.«
    Eschenbach trank und halbierte mit einem Bissen ein weiteres Croissant. »Und Johannes, ich meine, ist er nicht verheiratet? Auf der Beerdigung sah ich ihn nur mit seiner Sekretärin.«
    Auch Eveline hatte ein Croissant in den Händen und den Mund voll. Es dauerte einen Moment, bis sie den Bissen mit einem Schluck Milchkaffee hinuntergespült hatte und ihm eine Antwort geben konnte. »Nein, geheiratet hat er nie.«
    »Keine Frauen?«, unterbrach Eschenbach und hob provozierend eine Augenbraue.
    »Doch, doch.« Sie musste lachen. »Er ist nicht schwul, wenn Sie das meinen.«
    »Das meinte ich nicht«, Eschenbach musste auch lachen. »Ich dachte nur … er ist ein ungewöhnlich charismatischer Mensch.«
    »Sehr anziehend, ja.« Sie machte eine kurze Pause, als schien sie zu überlegen, ob sie es dabei belassen wolle. »Anziehend … und auf eine gewisse Art auch wieder nicht. Er kann sehr distanziert sein, manchmal sogar zynisch.«
    »Verbittert?«, warf Eschenbach ein, dem zynisch zu fremd klang.
    »Verbittert ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ach, was weiß ich … manchmal denke ich, dass ihn niemand wirklich kennt.«
    »Und seine Frauen?« Eschenbach blieb beim Thema.
    »Ach, da gab es nicht viel. Er war mit Frauengeschichten immer sehr diskret.« Wieder schien sie ihm auszuweichen, und er fragte sich, ob es mit Absicht geschah. War es wirklich Gleichgültigkeit oder steckte mehr dahinter?
    Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fuhr sie fort:
    »Es gab eine Frau, mit der er länger

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