Im Sommer sterben (German Edition)
jugendlich. Sie trug verwaschene Jeans und ein weißes T-Shirt. »Ich habe Philipp verlassen, als ich merkte, dass er auf kleine Mädchen stand.« Sie machte eine Pause und lächelte verlegen.
Als Eschenbach darauf nichts erwiderte, sprach sie weiter.
»Das passiert vielen Frauen in meinem Alter … Ich meine, dass sie eines Tages merken, dass ihr Mann eine Jüngere hat. Vielleicht ist das biologisch bedingt, ich weiß es nicht.« Sie strich sich mit der Hand über das angewinkelte Knie und sah Eschenbach in die Augen. »Aber das war bei uns nicht das eigentliche Problem. Ich denke, das wissen Sie bereits.«
Eschenbach nickte.
»Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich nicht schon damals zur Polizei gegangen bin? Das denken Sie doch, oder?« Ohne eine Reaktion abzuwarten, sprach sie weiter. »Ich habe mich das auch gefragt. Immer wieder und wieder. Ich habe jede Nacht gebetet, dass nichts mehr passiert. Dass er keinem Mädchen mehr etwas antun möge … Habe meine Verantwortung in Gottes Hand gelegt. Das kann man doch, habe ich gedacht. Gott fügt und richtet. So steht es doch in der Bibel, oder nicht?«
Eschenbach schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er fragte sich, wann er zum letzten Mal in der Bibel gelesen hatte. Er wusste es nicht mehr.
»Kennen sie das Vaterunser?«
Er nickte. Er kannte es, aber konnte er es auch? Wann hatte er das letzte Mal gebetet? Auch das fiel ihm nicht mehr ein.
Sie begann leise mit den ersten Zeilen. Irgendwann hielt sie inne. »Sehen Sie, da heißt es: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Dein Wille …« Sie wiederholte es mehrmals.»Wie kann es Gottes Wille sein, dass kleine unschuldige Kinder vergewaltigt werden? Verstehen Sie das … ich meine, können Sie das verstehen?« Ihre Stimme war laut und hart geworden. Sie fuhr sich mit ihren zierlichen Händen durch das Haar und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Es sind unsere Hände, die so etwas tun, Herr Kommissar. Unsere Augen, die wegsehen und nicht sehen wollen, was es zu sehen gäbe. Wir sind es doch, die schweigen.« Sie nahm den Fuß von der Couch und wollte aufstehen. »Ich habe geschwiegen … immer nur geschwiegen! Weil ich zu feige war, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ich bin schuld, dass es nicht aufhörte. Ich, nur ich … ich weiß nicht, warum … warum ich es nicht konnte.« Sie ließ sich wieder in die Couch fallen und begann leise zu schluchzen. »Man kann nicht alles dem lieben Gott in die Schuhe schieben … immer nur das Kreuz schlagen und die Hände in den Schoß legen.« Sie sah ihn traurig an.
Eschenbach überlegte, ob er etwas sagen sollte, ob es dazu überhaupt etwas zu sagen gab; und plötzlich hatte er das Verlangen, Eveline Marchand in die Arme zu nehmen. Er stand auf und setzte sich neben sie auf die Couch. Wie ein Häufchen Elend saß sie da, die Ellbogen auf den Oberschenkeln aufgestützt, und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Zögernd umfasste er ihr Handgelenk und hielt ihr mit der anderen Hand ein zusammengefaltetes Papiertaschentuch hin, das er noch hatte. Mehr brachte er nicht zustande, und irgendwie schämte er sich dafür.
21
Als das Dienstmädchen mit einem leeren Tablett kam, um das Geschirr wegzuräumen, sah sie, dass der Krug noch halb voll und von den Croissants in der Schale noch keines gegessen war. Sie zögerte einen Moment. Dann fragte sie, ob sie einen neuen Krug mit Kaffee brühen sollte.
Eveline Marchand hatte sich wieder gefangen. Sie knetete das zerknüllte Taschentuch wie einen Rosenkranz zwischen den Fingern und versuchte zu lächeln. Dann bat sie um eine frische Kanne.
»La mort de votre mari, n’est-ce pas?«, sagte das Dienstmädchen mitfühlend zu ihr, bevor sie mit dem Tablett wieder verschwand; irgendwie schien sie erleichtert, dass es für die Tränen der Hausherrin einen triftigen Grund gab.
»Das Mädchen hat die Todesanzeige gesehen, die mir Johannes geschickt hatte.«
»Sie meinen Johannes Bettlach, den Bruder des Verstorbenen?«
»Ja.« Eveline Marchand nickte. »Eigentlich ist er nur sein Halbbruder, aber das wissen Sie sicher schon.«
»Nein.« Eschenbach war überrascht. Er fragte sich, warum Johannes Bettlach es nicht erwähnt hatte. »Überhaupt weiß ich über die Familie nicht allzu viel. Ich dachte, Sie könnten mir da vielleicht helfen …« Er probierte es mit einem Lächeln.
»Von den beiden Brüdern habe ich zuerst Johannes kennen gelernt.« Sie überlegte einen Moment, und es schien, als würde sie die
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