Im Sommer sterben (German Edition)
hatte, und verließ das Hotel kurz nach sieben. Die Morgensonne überzog die gegenüberliegende Sandsteinfassade mit einem strahlenden Ockergelb. Es war noch nicht viel los um diese Zeit. Vereinzelt ein paar Autos, die sofort zu hupen begannen, als ihnen ein breites Gefährt der Müllabfuhr den Weg versperrte. Die Männer, in dunkelblauen Hosen und ärmellosen, weißen T-Shirts, ließen sich nicht von ihrer Arbeit abhalten. Sie dockten mit mächtigem Getöse einen Metallcontainer an einen Hebekran an und kippten den Inhalt in den Schlund ihres Wagens. Ein Stahlrechen drückte den Müll zusammen, bis er vollends im Innern des Fahrzeugs verschwand. Ein paar Säcke, die noch am Straßenrand lagen, wurden eingesammelt und mit einer Leichtigkeit, als handle es sich um Luftballons, in hohem Bogen in den bereits wieder fahrenden Wagen geworfen.
Eschenbach bog in die Rue des Saints Pères ein und ging das kurze Stück hinunter zur Seine. In einem samtenen Violett floss sie an ihm vorbei. Am Quai Voltaire blieb er einen Moment stehen, genoss den Blick auf den Pont Royal, der sich mit seinen kurzen kräftigen Beinen einen Weg ans rechte Ufer bahnte. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass hier ursprünglich eine Holzbrücke gestanden hatte, die dem Adel einen möglichst kurzen Weg ans linke Ufer gewährte. Er verspürte Lust, es den Adligen gleichzutun. Auf der Brücke hielt er immer wieder inne und sog die mit Licht durchflutete, großzügige Schönheit auf, die sich rundherum bot. Den Gedanken, vielleicht noch einen Tag länger zu bleiben, schmetterte er ab, bevor er ihn zu Ende gedacht hatte.
Auf dem Heimweg machte er in einem kleinen Bistro Halt. Die Stühle aus Korbgeflecht erinnerten ihn an den Breuer-Stuhl, den Corina und er damals auf dem Marché aux Puces erstanden hatten. Er blätterte in einer französischen Zeitung und spülte die drei Croissants, die man ihm hingestellt hatte, mit einer Kanne Milchkaffee hinunter.
Die Frau, Ende vierzig, die Eschenbach die Tür öffnete, war ganz anders, als er sich die geschiedene Frau von Philipp Bettlach vorgestellt hatte. Sie war klein, zierlich, hatte ein ebenmäßiges, fast puppenhaftes Gesicht und dunkle, kunstvoll zerzauste, schulterlange Haare.
»Es freut mich, dass Sie mich besuchen kommen, Herr Kommissar.« Die Freude wirkte natürlich, und der Charme, den ihre Stimme am Telefon vermuten ließ, bestätigte sich in ihren Augen und in der Art, wie sie lächelte.
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, sagte Eschenbach und versuchte die Wärme, die sie ausstrahlte, zu erwidern.
Es war eine große, geräumige Wohnung im ersten Stock eines Patrizierhauses an der Rue Gay Lussac. Der Holzboden knirschte unter den schweren Schritten des Kommissars. Er war fasziniert von dem Kunstwerk, das sich unter seinen Füßen auftat. Die Holzriemen und Intarsien griffen ineinander und fügten sich zu einem einzigen, prachtvollen Mosaik zusammen.
»Wunderschön«, sagte er. »So etwas gibt es heute nicht mehr.«
»Leider.« Sie lächelte verlegen.
Er nickte und fragte sich, ob er seine Schuhe ausziehen solle. Dann sah er, dass sie auch keine Hausschuhe trug.
Sie führte ihn in den Wohnbereich. Lange, brokatseidene Vorhänge in hellem Beige hingen entlang den Fensterrahmen bis auf den Boden und gaben dem Raum etwas vornehm Aristokratisches. Die Möbelstücke, die dem Raum nichts von seiner Großzügigkeit nahmen, vereinten in erfrischender Weise die letzten drei Jahrhunderte: Louis IV. bis VI., Chippendale, Rokoko, eine Jugendstil-Lampe, ein Sekretär aus der Zeit um die Jahrhundertwende und ein paar Stücke der klassischen Moderne.
Der Sessel, den sie ihm anbot, war viel bequemer, als er aussah. Überraschend, fand er, denn meistens verhielt es sich umgekehrt.
»Ein Prototyp von Philippe Starck«, sagte sie. »Leider eine Fehlkonstruktion, wie sich herausstellte. Falsche Winkel, falsches Material. Alles falsch.«
»Vielleicht ist er deshalb so bequem«, sagte Eschenbach, und beide lachten.
»Aber Sie sind ja nicht gekommen, um mit mir über Möbelstücke zu sprechen.«
»Nicht nur …« Er nahm einen Schluck Milchkaffee, den das Dienstmädchen – eine jüngere Frau Anfang zwanzig, die ihm als Astrid vorgestellt wurde – auf den Tisch gestellt hatte.
Eveline Marchand saß ihm direkt gegenüber. Sie hatte den linken Schuh abgestreift und das Bein zu sich auf die Couch gezogen. Obwohl sie ihr Alter nicht verbarg – anscheinend auch nicht verbergen wollte –, wirkte sie
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