Im Sommer sterben (German Edition)
zusammen war.«
»Ach ja? Kannten Sie sie?«
»Eine Westschweizerin aus Lausanne. Aus einer jüdischen Bankiersfamilie, wenn ich mich recht besinne.« Sie dachte nach. »Den Namen weiß ich nicht mehr.«
Eschenbach wusste nicht, warum er sicher war, dass sie log. Vielleicht hatte sich bei ihm über die vielen Jahre ein siebter Sinn entwickelt, der ihm sagte, ob jemand wirklich nachdachte oder es nur vortäuschte. Eveline Marchand dachte keine Sekunde nach. Sie kannte den Namen. Warum verschwieg sie ihn?
»Johannes brachte sie einmal mit auf eine unserer Vernissagen. Da hat er sie mir vorgestellt, zusammen mit seinem Bruder Philipp.«
»Und da hat es dann gefunkt. Ich meine, zwischen Ihnen und Philipp?«
Sie lachte. »Gefunkt kann man nicht sagen. Er hat sich redlich bemüht. Philipp konnte sehr reizend sein … und großzügig. Er überhäufte mich regelrecht mit Geschenken und …«, sie zögerte einen Moment, »und hatte damit schlussendlich auch Erfolg. So würde ich es sagen.« Eveline Marchand lehnte sich zurück und schmunzelte. »Nehmen Sie noch eine Tasse Kaffee?« Eschenbach bejahte und langte noch einmal zu, als sie ihm die Schale mit den Croissants hinüberschob. »Erzählen Sie mir doch etwas über die Familie Bettlach. Der Name klingt unschweizerisch. Kamen sie aus Deutschland?«
»Ja. Als der Krieg ausbrach, hatten die Bettlachs eine kleine Pension in Meersburg am Bodensee. Der Vater, ein einfacher Soldat der Wehrmacht, wurde eingezogen, kämpfte und starb im Spätsommer 1943. Irgendwo an der Ostfront, zwischen Witebsk und Orscha, hat man uns später gesagt. Aber wer weiß das schon so genau. Jedenfalls ist er nie mehr zurückgekehrt.« Eveline Marchand zuckte mit den Schultern. »Johannes war damals noch ein Kind. Zu jung, um zu kämpfen, und zu alt, um nicht doch etwas von dem mitzukriegen, was damals in Deutschland lief. Adele, seine Mutter, führte die Pension allein, und er half ihr dabei. So gut er es in seinem Alter konnte.«
Eschenbach nickte.
»Neben dem normalen Pensionsalltag war da noch etwas … ich hab mich ehrlich gesagt immer darüber gewundert.« Eveline Marchand hielt inne und dachte nach.
Eschenbach wartete.
»Adele Bettlach war eine Fluchthelferin …«
»Ach ja? Wie meinen Sie das?«
»Sie half deutschen Juden bei der Flucht in die Schweiz.«
Wieder machte sie eine kurze Pause. »Wir wussten nie recht, warum sie es tat. Sie war selbst keine Jüdin … auch keine Widerstandskämpferin. Eigentlich hatte sie zum Judentum überhaupt keine Beziehung. Sie war Deutsche. Durch und durch Deutsche, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Eschenbach war nicht sicher, ob er es wusste. War er in ihren Augen jetzt Schweizer – mit oder ohne durch-und-durch?
»Und trotzdem tat sie es. Wir haben sie später immer wieder gefragt, warum sie es getan hatte. Sie ließ uns darüber im Unklaren. Einmal sagte sie: ›Wenn man helfen kann, dann muss man helfen. So einfach ist das.‹ Mich hat das immer sehr beeindruckt.«
»Wie hat sie das angestellt?«, fragte Eschenbach, der von ähnlichen Geschichten auch schon gehört hatte.
»Sie muss gute Beziehungen zum Schweizer Grenzwachcorps gehabt haben. Und zur Seepolizei. Sie hat uns nie Genaueres verraten. Aber die Beziehungen waren so gut, dass sie drei Jahre nach Kriegsende schwanger war.«
»Mit Philipp Bettlach?«
»Sie haben es erraten«, sagte sie und lächelte.
»Kannten Sie Adele Bettlach?«
»Ja, eine sanftmütige und kluge Frau. Und obwohl sie schon über siebzig war, als ich sie kennen lernte, sah man ihr an, dass sie einmal wunderschön gewesen sein musste. Ich kann mich noch gut erinnern, als mich Philipp ihr vorstellte. Es war ein heißer Nachmittag im August. Am Ersten, um genau zu sein. Denn es war der Schweizer Nationalfeiertag, und die beiden Brüder hatten für den Abend ein großes Feuerwerk geplant. Sie saß in der schattigen Ecke des Gartens der Villa unter einer großen Platane. Trotz der Hitze hatte sie eine gehäkelte Wolldecke über den Beinen. Als ich sie fragte, ob es ihr nicht zu warm sei, lächelte sie nur. Wenn man alt würde, meinte sie, fräße einen die Kälte langsam auf; die Wärme lebe nur noch in der Erinnerung. Die Decke würde ihr helfen, die Erinnerung länger bei sich zu halten. Später, als Philipp ihr sagte, dass wir heiraten wollen, hat sie mir abgeraten: Kindchen , hat sie gesagt und mich am Ärmel gezupft. Du wirst nicht glücklich mit ihm. Ich bin eine alte Frau und weiß das . Sie sagte es
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