Im Sommer sterben (German Edition)
Eltern aufgewachsen. Sie starben bei einem Autounfall, als ich noch ein Kind war. Aber ich hatte wenigstens Fotos von ihnen. Meine Tante und mein Onkel, bei denen ich lebte, haben mir von Mutter und Vater erzählt, und mit der Zeit wurden sie für mich wieder lebendig. Wenigstens nachts, wenn ich einschlafen sollte … und in meinen Träumen.«
Er verstand, was sie meinte und nickte.
»Seine Mutter sprach kaum über seinen Vater. Ein Schweizer Grenzschutzbeamter soll es gewesen sein. Half jüdischen Flüchtlingen, illegal in die Schweiz zu gelangen. Das Verhältnis der beiden überdauerte zwar den Krieg, nicht aber die Jahre danach. Irgendwie verschwand er plötzlich von der Bildfläche. Ging fürs Rote Kreuz nach Nigeria und ist dort auf tragische Weise ums Leben gekommen. So viel hat Philipp rausbekommen, mehr nicht. Keine Fotos, keiner, der ihn kannte. Er blieb für Philipp zeitlebens ein Phantom. Ich glaube, er litt sehr darunter. Zuerst wuchs er bei Mutter und Bruder auf, und später dann steckten sie ihn in ein Internat.«
»Wo Sie ihn kennen lernten«, unterbrach Eschenbach. Er erinnerte sich daran, dass sie es in der Kirche erwähnt hatte.
»Ja … Raschnitz.« Einen Moment lang schwieg sie, und Eschenbach war, als verschwände sie aus der Gegenwart. Dann hob sie ihren Blick, und mit einem Ruck war sie wieder da. »Sie haben gut aufgepasst, Herr Kommissar. War eine schreckliche Beerdigung, nicht wahr?«
»Ich finde Beerdigungen immer schrecklich«, sagte Eschenbach.
»Ach ja? Ich möchte einmal, dass die Leute tanzen. Gospelchor und eine tanzende Menge … können Sie sich das vorstellen?« Rania Oberholzer breitete ihre Arme aus, und ihr Körper bebte.
»Eigentlich nicht so recht, nicht bei uns. Ist ja auch egal.« Eschenbach hatte sich über seine eigene Beerdigung noch nie Gedanken gemacht. »Sicher gibt es unterschiedliche Formen, Trauer auszudrücken.«
»Ich finde Singen und Tanzen keine schlechte.« Sie lachte.
»Vielleicht«, grummelte Eschenbach, der beides nicht konnte. »Erzählen Sie mir von Raschnitz.«
»Es war so gegen zehn Uhr morgens. An einem grauen Dienstag, nach Ostern. Ich glaube, es war Mai oder Ende April. Ich weiß es nicht mehr so genau. Dienstag ist mir geblieben.« Sie öffnete eine neue Flasche, die dritte. Eschenbach nahm sie ihr ab und füllte die Gläser. »Unsere Klasse hatte gerade eine Freistunde, als der große, dunkelblaue Wagen seines Bruders vorfuhr. Johannes hatte ihn selbst gefahren. Ich dachte erst, er wäre der Chauffeur. Sie waren nur zu zweit, das ist mir gleich aufgefallen. Normalerweise kommen beide Elternteile, oder nur die Mutter mit Fahrer. Selten nur der Chauffeur … beim ersten Mal wenigstens. Wir wussten damals nicht, dass Johannes sein Bruder war. Als Vater kam er vom Alter her nicht in Frage, obwohl sie sich ähnlich sahen. Väter von Internatskindern sind älter, Mütter jünger. Sehr viel jünger.« Sie lachte. »Und manchmal ist es genau umgekehrt.«
»War er in Ihrem Alter?«, fragte Eschenbach, der Internatsgeschichten nur vom Hörensagen kannte.
»Ja, fast auf den Tag genau. Am 27. Oktober ist er geboren, ich am achtundzwanzigsten. Wir sind beide Skorpione!« Sie rollte mit den Augen. »Wir waren acht Mädchen und vier Jungs. Philipp war der fünfte und hübscheste von allen. Er war schlaksig, hatte lange, bis auf die Schultern fallende, dunkelblonde Locken.« Sie schaute nachdenklich zum Fenster raus.
»Und?« Eschenbach fiel nur dieses eine Wort ein, und er hoffte, dass es reichen würde, um die Geschichte am Laufen zu halten.
»Ich glaube, es waren seine Augen. Manchmal strahlte daraus die Sonne.« Sie hielt inne. Dann fuhr sie mit der flachen Hand über ein paar Wassertropfen, die wie Perlen auf der glatten Holzoberfläche geschimmert hatten, und verstrich sie. »Aber meistens hatten sie den blassen Glanz des Mondscheins.« Wieder dachte sie nach. »Sind Sie mondsüchtig, Herr Kommissar?«
»Meine Frau behauptet es.«
»Und? Hat sie Recht?«
»Vielleicht. Ich weiß nicht so genau. Aber als Entschuldigung für meine schlechten Launen lasse ich es gelten.«
»Der Mond hat einen größeren Einfluss auf uns, als wir denken; Gezeiten, Menstruation, das Wechselspiel von Wachsen und Absterben.«
Vielleicht hätte Corina Rania Oberholzer den Spitznamen »Mrs Doom« gegeben. So wie sie über den Mond und Bettlach sprach, wie sie da saß in ihrem schwarzen T-Shirt, das ihr wie ein Poncho über den Schultern hing; mit den schwarzen
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