Im Sommer sterben (German Edition)
Fingernägeln und dem dunklen Lipgloss. Eschenbach hätte Einspruch erhoben. Zu lebhaft, offen und flunkrig war sie in Wirklichkeit. Kam jetzt die Geschichte vom Werwolf? Vom Sonnyboy, der nachts kleine Mädchen fraß?
»Wir waren alle verrückt nach ihm. Wir flogen ihm zu wie kleine, lichtgeile Motten.« Sie trocknete sich mit dem rechten Ärmel den Schweiß auf der Stirn. »Ich habe später einmal einen Zigeuner kennen gelernt. Dem liefen Hunde und Katzen nach wie wir damals Philipp. Wildfremde Tiere, die ihren Herrchen und Frauchen einfach davonliefen. Können Sie sich das vorstellen?«
»Und? Hatten Sie was mit ihm?«
Rania Oberholzer lachte schallend. »Ich? Alle hatten was mit ihm! Er bumste jede … und die meisten Jungs noch dazu.« Sie öffnete die letzte Flasche, und Eschenbach übernahm das Einschenken. »Wir waren ihm hörig, Herr Kommissar. Das ganze Internat war ihm hörig. Und wenn ich das sage, dann meine ich nicht nur die Schüler.« Sie lachte, als wolle sie das Gesagte mit ihren Zähnen zersägen. »Kennen Sie Ihre devote Seite, Herr Kommissar?«
Eschenbach grinste verlegen. »Ich glaube nicht, dass ich eine habe.«
»Das dachte ich auch. Und dann kommt dieser schlaksige Junge, mit seinem Engelsgesicht und den tiefblauen Augen … und plötzlich ist alles anders.«
Eschenbach, der eigentlich dagegenhalten wollte, schwieg.
»Ich weiß nicht, ob er wirklich das war, was wir in der Psychologie pädophil nennen. Ich habe lange darüber nachgedacht, später, während meines Medizinstudiums.«
»War er ein Sadist? Meinen Sie das?« Eschenbach hatte von ähnlichen Fällen schon gelesen.
»Vielleicht. Was auch immer das heißt. Er war gefühlskalt und mitleidlos. Und das Tragische daran war, dass er selbst es wusste. Es gab Zeiten, da schloss er sich ein. War unnahbar und sprach mit niemandem ein Wort. Einmal, da brannte er sich mit einer Zigarette ein Loch in den Unterarm. Er schrie dabei, und es stank nach verkohltem Fleisch.«
»War er in Behandlung?«
»Später ja. Ich glaube, sein Bruder hat irgendwann gemerkt, was mit ihm los war.«
»Wissen Sie, wo?«
»Burghölzli«, kam es kurz. »Und Basel, soviel ich weiß.«
»Kennen Sie die Akten?«, fragte Eschenbach und schaute sie an, wie sie trank und aus dem Fenster sah.
»Wie kommen Sie darauf, Herr Kommissar? Ich bin weder Familienmitglied, noch ist … ich meine, war Philipp mein Patient.«
Eschenbach wusste nicht, warum er sicher war, dass Rania Oberholzer die Akten von Philipp Bettlach besaß. »Sie haben sie also. Kann ich sie sehen?«
Sie wandte ihren Blick vom Fenster zu ihm, sah ihn lange schweigend an. Dann kam das Lachen zurück, mit dem sie dem Leben trotzte. »Ich sehe, Sie sind nicht blöd, Herr Eschenbach. Und ich will Ihnen auch nichts vorgaukeln. Ich gebe sie Ihnen.« Sie sah ihn ernst an. »Es sind Kopien, die nicht existieren. Die auch weiterhin nicht existieren … ich nehme an, wir verstehen uns?«
Eschenbach nickte.
Sie stand auf, ging ein paar Schritte zur Wand und zog die Schublade einer Hängeregistratur heraus. Einen Moment suchte sie, bis sie es fand. Es war eine graue Mappe ohne Aufschrift.
»Hier. Finden Sie Philipps Mörder!« Sie legte die Akte auf den Tisch und blieb stehen.
»Liegt Ihnen denn etwas daran? Ich meine, spielt es für Sie denn eine Rolle, ob wir den Mörder finden?«, fragte Eschenbach und blätterte beiläufig in den Unterlagen.
Sie sah ihn an, und es war ihm, als hätte sie sich die Frage auch schon gestellt. »Ja. Für meine Patienten spielt es auch eine Rolle, ob wir den richtigen oder den falschen Zahn erwischen.« Einen Moment zögerte sie, dann sprach sie weiter: »Philipp war krank … aber er war auch ein Freund. Ein kranker Freund eben; und nicht nur medizinisch betrachtet, halte ich Mord für eine äußerst ungeeignete Methode, um Kranke zu therapieren.«
»Die Akten sind über dreißig Jahre alt«, sagte der Kommissar verwundert. »Wurde er später nicht mehr behandelt?«
»Soviel ich weiß schon, in ausländischen Kliniken, größtenteils in den USA. Er hat nicht viel darüber gesprochen. Die Schweiz ist ein kleines Land, und Philipp Bettlach war in hiesigen Gesellschaftskreisen ein prominenter Name. Ich nehme an, er wollte damit möglichst anonym bleiben.«
Eschenbach nickte. Es erklärte die regelmäßigen Auslandsaufenthalte, auch wusste er nun, weshalb seine Anfrage bei den Schweizer Kliniken nichts gebracht hatte.
Sie streckte ihm ihre große, fleischige Hand
Weitere Kostenlose Bücher