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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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»Wir dürfen am Standplatz den Motor nicht laufen lassen. Wegen dem Gesetz und dem Ozonloch.« Eschenbach fragte sich, was mehr Eindruck machte: Gesetz oder Ozonloch – und er hatte seine Zweifel, ob sich das Ozonloch auch ohne Gesetz hätte durchsetzen können.
    Es dauerte ewig, bis er eines der Hemden von Kartonstücken, Seidenpapier und Heftnadeln befreit hatte. Ihm fröstelte, als er mit nacktem Oberkörper dasaß und sich das frische Hemd überzog.
    Das Institut für Zahnheilkunde der Universität Bern lag an der Freiburgstraße 7. Der Taxifahrer machte vor der Treppe des Hauptportals Halt. Es war ein hässliches, fünfstöckiges Gebäude aus den siebziger Jahren. Wäre es ein Zahn gewesen, man hätte ihn längst gezogen. Eschenbach überlegte, ob er es von der Treppe bis zum Eingang schaffen würde, ohne gleich wieder das Hemd wechseln zu müssen. Sprint oder bedächtiges Gehen; was war die bessere Taktik? Er bezahlte, riss die Tür auf, und als ihm die Hitze den Atem nahm, entschied er sich für Gehen. Gemächlichen Schrittes tappte er die Treppenstufen hoch, und als er oben ankam, war er froh, dass er nicht gerannt war.
    »Frau Dr. Oberholzer wird gleich jemanden schicken … Sie können dort drüben warten. Hier ist Kundenzone.« Die Dame hinter der Plexiglasscheibe war kühl; im Vergleich zum herrlichen Wetter geradezu frostig. Sie trug ein weit ausgeschnittenes, ärmelloses Kleid. Gesicht, Hals, Dekolleté und Arme waren so braun wie der alte Kirschbaumschrank, der bei Corina im Schlafzimmer stand. Es war jenes dunkle, ausgemergelte Braun, das eigentlich nur alten Schränken gut stand. Frauen ab einem gewissen Alter machte es hart, fand Eschenbach. Insbesondere wenn sie so schlank und drahtig waren wie die vom Empfang.
    Er ging durch die Halle, hinüber zur Sitzgruppe, auf die »Frau Pinocchio« energisch gezeigt hatte. Er schmunzelte. »Frau Pinocchio« fand er treffend. Es war ein Spiel, das Corina gerne spielte. Im Vergeben von Spitznamen war sie meisterhaft, und wenn sie zusammen über jemanden sprachen, dann meistens über »Mausefalle« oder »Zanker«, »Colafrosch« und »Meise«. Von ein paar wenigen abgesehen, wussten die meisten nichts von ihren Codenamen. Die Ausnahmen gingen auf das Konto von Kathrin, als sie noch ein Kind war. »Fadenhexe« für Tante Gabi war unfair gewesen. Eschenbach wäre damals am liebsten im Erdboden versunken. Und als Corinas Schwester sich darauf ein Herz gefasst und ihre fettigen »Fäden« mit einer Dauerwelle in eine Lockenpracht verwandelt hatte, da wurde alles anders: neue Liebe, neue Kleider und ein Umzug nach Genf. Nur die »Fadenhexe«, die blieb. Hinzu kam »Napoleon« für ihren Mann, der eigentlich Frédéric hieß und Franzose war.
    Corina sah es locker, und nicht selten passten die Spitznamen besser zu den Personen als ihr wirklicher Name. Kinder haben dafür ein Gespür, fand Corina. Sie war in solchen Dingen sehr ungezwungen, und Eschenbach liebte sie dafür.
    Der junge Mann, der ihn abholte, gehörte auch zur Familie Pinocchio. Allerdings fand der Kommissar, dass die Bräune bei ihm nicht so unnatürlich wirkte. Vielleicht weil er ein Mann und jünger war, dachte er. Es machte ihn auf den ersten Blick männlicher, als er auf den zweiten Blick war. Trotz ledernem Braun wirkte er schüchtern, hatte sanfte, dunkle Augen und strahlend weiße Zähne.
    »Tobias Eigenmann, ich bin Professor Oberholzers Assistent«, sagte er stolz. »Es freut mich, Sie zu empfangen.«
    »Ist sie Professorin oder Doktorin?«, fragte Eschenbach, dem aufgefallen war, dass Frau Pinocchio am Empfang »Dr. Oberholzer« und nicht »Professor Oberholzer« gesagt hatte.
    »Sie ist bald Professorin, Herr Kommissar«, sagte Tobias Eigenmann wichtig. »Genau genommen ist sie Privatdozentin. Das ist man, bevor man Professor wird. Sie wird es nächstes Semester. Hat ihre Antrittsrede schon gehalten … eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, wissen Sie.« Sein makelloses Gebiss wies unmissverständlich darauf hin, wo sie sich gerade befanden.
    »Ah, so ist das.« Eschenbach nickte, als hätte man ihm gerade eine komplizierte Operationsmethode erklärt. Natürlich kannte er aus seiner Zeit an der Universität die Gepflogenheiten zur Erlangung akademischer Titel. Aber der Enthusiasmus, den der junge Assistenzarzt ausstrahlte, verdiente das dankbare Nicken des Aufgeklärten.
    Im Aufzug standen sie schweigend nebeneinander. Eschenbach suchte verzweifelt nach einer weiteren Frage. Er hasste die

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