Im Sommer sterben (German Edition)
über den Brillenrand angehoben hatte. Eschenbach machte sich nichts vor: Es hieß, dass er bleich, abgekämpft, mürrisch und, wenn man es genau nahm, zum Kotzen aussah. Da half nichts. Da konnte man weder mit Lavazza-Espresso-in-perlweißem-Mokkageschirr und Zuckerdose noch mit Amarettigebäck und Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Lächeln dagegen halten. Tür zu war das Einzige, was half.
Von Jagmetti nahm Eschenbach an, dass er noch schlief, und hatte sich deshalb nicht nach ihm erkundigt.
Lenz hatte den Ordner in vier Kapitel gegliedert. Militär, Sport, Familie, Beruf. Wie einfach sich ein Leben in Kapitel gießen lässt, dachte Eschenbach.
Woher hatte Lenz nur seine Informationen? Vertrauliche Dokumente, die wichtige Stationen von Hottigers militärischer Laufbahn belegten. Wie um alles in der Welt kam er zu solchem Material? Er hätte ihn am liebsten angerufen, aber er wusste, dass es nichts bringen würde. Schon gar nicht in dem Zustand, in dem sich Lenz womöglich gerade befand.
Ein Foto zeigte Hottiger als jungen Hauptmann im Generalstab, ein anderes als Ausbilder in der Uniform eines Obersten. Da war er schon älter und hatte einen kurzen, graumelierten Bart. Bärte sind selten bei hohen Offizieren, dachte Eschenbach. Irgendwie liebten es die Militärs rasiert – am besten bis hinter die Ohren. Eschenbach fand, dass Hottiger mit Bart besser aussah. Er hatte etwas von Hemingway, etwas Verwegenes, Romantisches. Eschenbach las einige der Zeugnisse. Sie waren allesamt ausgezeichnet. Intelligent, willens- und durchsetzungsstark waren die häufigsten Attribute darin. Bei einem der Zeugnisse stutzte er. Er las es ein zweites Mal. Es war nicht der Inhalt, der ihm besonders aufgefallen war, es war die Person, die es ausstellte:
Hauptmann Hottiger leitete die Übung »Aurora« mit der ihm eigenen strategischen Brillanz. Trotz schwerster Störmanöver seitens der Übungsleitung verlor er zu keinem Zeitpunkt das Ziel aus den Augen. Er verfügt über eine überdurchschnittliche Intelligenz und die Gabe, sich in die Position des Gegners hineinzudenken. Obwohl individualistisch geprägt, vermag er seine persönlichen Absichten einem größeren Ganzen unterzuordnen.
Ich schlage vor, Hauptmann Hottiger an einem der nächsten Ausbildungslehrgänge für Generalstabsoffiziere teilnehmen zu lassen.
Oberst im Generalstab J. Bettlach
Johannes Bettlach und Hottiger kannten sich also vom Militär! Weiter hinten im Ordner stieß Eschenbach ein weiteres Mal auf denselben Namen. Diesmal als Trauzeuge. Bettlach und Hottiger waren Freunde.
Eva Matter und Ernst Hottiger hatten am 23. Mai 1981 standesamtlich in Horgen, Kanton Zürich, geheiratet. Über eine kirchliche Trauung fand er nichts. Hottiger war damals vierzig gewesen, seine Frau knapp sechzehn Jahre jünger. Sie musste schon schwanger gewesen sein, denn sieben Monate später, am 10. Dezember 1981 gebar sie im Spital Lachen, Kanton Schwyz. Eine Kopie der Geburtsurkunde von Doris Hottiger lag dabei. Ebenfalls die Sterbeurkunde von Eva Hottiger-Matter. Ausgestellt am 18. Dezember 1981 von einem Dr. Beat Leibundgut, Feusisberg, Kanton Schwyz. Eschenbach stutzte, als er die Daten las. Auch Lenz mussten sie aufgefallen sein, denn sie waren mit schwarzem Filzstift eingekreist.
Eschenbach war bisher davon ausgegangen, dass Eva Hottiger bei der Geburt und somit noch an demselben Tag gestorben war. Was er in den Händen hielt, deutete darauf hin, dass sie erst eine Woche später verstorben war. Als Todesursache wurde »plötzlicher Herzstillstand« angegeben. Plötzlicher Herzstillstand als Spätfolge einer Geburt? Eschenbach wusste vom »plötzlichen Kindstod«. Er wusste um die Angst junger Mütter, dass ihr Neugeborenes zu atmen aufhöre und stürbe. Aber der plötzliche Tod einer Mutter?
Auf die Kopien der beiden Urkunden, Geburts- und Sterbeurkunde, hatte Lenz zwei Worte gekritzelt. Mit großen Buchstaben stand da: »CHECK«, und darunter unleserlich etwas, das er als Originale? entzifferte. Zweifelte Lenz an der Echtheit der Urkunden? Und wenn er das tat, weshalb? Wie überhaupt war er in so kurzer Zeit an die Dokumente gekommen? Alles Fragen, die er ihm gerne gestellt hätte – und die ihm vielleicht auch Jagmetti beantworten könnte, wenn er nur endlich eintreffen würde.
Er schrieb sich ein paar Namen, Adressen und Telefonnummern in sein Notizbuch; dann wählte er die Handynummer von Johannes Bettlach. Zu seinem Erstaunen erreichte er den Bankier beim ersten
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