Im Sommer sterben (German Edition)
konnte sich noch gut an das Ehepaar Hottiger erinnern. Ein seltsames Paar, fand Schwester Claudia.
»Wissen Sie, Herr Kommissar, hätte ich nicht die Papiere gehabt, die sie als Ehepaar auswiesen, ich hätte geglaubt, es wären Vater und Tochter.«
Eschenbach hätte schwören können, dass sich das Rot ihrer Wangen vertiefte.
»Nicht wegen des Altersunterschiedes, wenn Sie das denken. Dass sich ein junges Mädchen einen gestandenen Herrn zur Seite nimmt …«
Ihm gefiel ihre Ausdrucksweise.
»Das war es nicht. So was würde mich auch nicht irritieren.« Sie sah Eschenbach an und lächelte. »Nein, es war mehr die Art, wie sie miteinander umgingen.« Ohne eine Zwischenfrage abzuwarten, fuhr sie fort: »Sehen Sie, ich habe in den letzten dreißig Jahren schon ganze Dörfer voller Kinder zur Welt gebracht. Und wissen Sie was?«
Schwester Claudia ließ ihm kaum Zeit für ein kurzes Kopfschütteln. »Selbst das scheueste oder zickigste Paar, Streithähne und Miesepeter … wenn ihr Kind zur Welt kommt, sind sie ein Liebespaar.« Sie machte eine kurze Pause.
»Die Hottigers waren keins. Und das, obwohl sie erst ein halbes Jahr miteinander verheiratet waren.«
»Und die Geburt? Ich meine, wie ist sie verlaufen? Sie wissen vielleicht auch, dass …« Eschenbach kam nicht weiter.
»Das ist es ja gerade. Die verlief ohne jegliche Komplikationen. Ein Kaiserschnitt … auf Wunsch der Mutter. Wie im Bilderbuch, sage ich Ihnen. Und dann, knapp eine Woche später, lese ich die Todesanzeige. Eine so hübsche, junge Frau. Tragisch, wir waren alle erschüttert.«
»Wie lange ist sie denn im Spital geblieben?«, fragte Eschenbach.
»Vier Tage.«
»Bitte?«, meldete sich Jagmetti, völlig erstaunt. »Meine Schwester hatte auch einen Kaiserschnitt, wegen der Steißlage des Babys. Sie ist über eine Woche im Spital geblieben.«
»Das ist auch völlig normal. Eine gute Woche, sagen wir immer.«
Jagmetti nickte.
»Aber die Hottigers wollten nach vier Tagen schon nach Hause. Sie wäre gut aufgehoben und hätte auch eine Hausangestellte. Dr. Bamatter, unser Chefgynäkologe, willigte schließlich ein.« Schwester Claudia zuckte mit den Schultern, und ihre kräftigen Arme wirkten auf einmal schwach und hilflos. »Wäre sie nur geblieben, vielleicht hätte die Kleine ihre Mutter jetzt noch.«
»Und Dr. Bamatter, lebt er noch? Ich konnte ihn nirgends finden.« Eschenbach tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Ach, der Willy. Der ist schon lange tot. Es war eine seiner letzten Operationen. Ein Jahr später hat er sich pensionieren lassen. Mit siebzig, wohlverstanden. Hat sehr darunter gelitten, unter der Geschichte, das kann ich Ihnen sagen. Aber Frau Hottiger hatte sich nach der Operation schnell erholt und eine sehr gute Konstitution … Es ist nicht schön, wenn man so etwas erlebt, und dann noch so kurz vor der Pension.«
Eschenbach nickte. »Ist er der Sache nachgegangen? Ich meine, es dürfte für einen so erfahrenen Arzt wie ihn doch sehr seltsam klingen, wenn eine junge Frau, mit guter Konstitution, wie Sie sagen, plötzlich stirbt.«
»Ja, tagelang redete er von nichts anderem. Er sprach mit dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte. Wie hieß er doch gleich?«
»Dr. Leibundgut?«, warf Eschenbach ein. Es war ein Name, den er sich gut hatte merken können.
»Ja, Dr. Leibundgut. Aber es war zu spät. Der Leichnam war längst kremiert, als die Todesanzeige in der Zeitung erschien. Abdankung in kleinstem Familienkreise, Sie wissen schon.«
Wieder das hilflose Zucken. »Es ist nicht einfach, so in Pension zu gehen.«
Eschenbach nickte und dachte unbehaglich daran, wie viel ungelöste Fälle er einmal zurücklassen würde.
Die beiden Polizisten bedankten sich und gingen zum Lift, wo sie sich entschieden, das Treppenhaus zu nehmen. Ein paar Schritte täten gut, fand Eschenbach und kramte nach einem Zigarillo.
»Eine merkwürdige Geschichte, finden Sie nicht, Chef?«
Eschenbach sagte nichts. Er stapfte schweigend die Treppe hinunter und dachte nach.
»Lenz und ich haben versucht, etwas über diese Eva Matter herauszufinden«, sagte Jagmetti. »Früherer Wohnort, Eltern … irgendetwas.« Der junge Polizist schüttelte den Kopf. »Sie werden es nicht glauben, Chef. Wir fanden nichts. Totale Fehlanzeige! Entweder die Daten in der Heiratsurkunde sind falsch, oder die Matter gibt’s gar nicht.«
Wieder sagte Eschenbach nichts. Nur der Trittschall seiner Lederabsätze war zu hören.
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