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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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das Portal des Rathauses, ein grauer Morgen, Wolken, er sieht Regentropfen auf der Scheibe. Die Pläne und Unterlagen liegen neben ihm auf dem großen Doppelbett. Der Besichtigungstermin steht. Vier alte Wassertürme. Ein kleines Haus im Zentrum. Aber es sind die Türme, die ihn faszinieren, und einen davon werden sie ausbauen. Eigenkapital und Kredite. Er kann bis fünfhunderttausend bieten. AK und seine eigenen Leute. Er hat einen Traum von einem Club an der Grenze. Ein Stück außerhalb dieser seltsamen Stadt. Ein runder alter Turm mit vielen Zimmern. Bars, Whirlpools. Exklusiv. Und eine wunderbare Aussicht. Einmalig in der Region. Mädchen aus Polen, Mädchen aus Deutschland. Schwarze und Russinnen. Vollweiber und schlanke Models. Girlfriendsex und SM. Und der IC fährt stündlich nach Berlin und über Schwerin bis nach Hamburg. Die Politik unterstützt das Projekt, die Behörden sind mit im Boot, die Steuergelder fließen in beide Richtungen, und der Kommissar vom Dezernat 1 hält ihnen die Konkurrenz vom Hals. Europa-City. Alles wird sich ändern. Er schaltet seinen kleinen Weltempfänger ein. Domian und Harald Schmidt. Er lacht, was ist das nur für eine Type, dieser Schmidt. Kein Respekt vor niemand.
    »Abtörnerpornos. Das wär eigentlich im Grunde ’ne Idee. Da hast du mich auf ’ne große Marktlücke gestoßen. Ich produziere in Zukunft mit mir in der Hauptrolle Abtörnpornos. Das heißt, wer zu geil ist oder das Gefühl hat, dass er zu scharf ist, der schiebt sich einfach so ’n Porno mit mir rein und kann dann beruhigt einschlafen, ohne Medikamente.«
    Er setzt sich aufs Gras der Böschung. Er kann das linke Bein kaum noch bewegen. Kein Blut. Nur eine Schwellung dick wie eine Faust. Im Knie ist was kaputt, das spürt er. Er hat immer ein paar Schmerztabletten dabei. Wegen seinem Rücken. Valium sowieso. Und Betablocker, zum Runterfahren. Damit er traumlos schlafen kann, ins Schwarz eintauchen und wieder auftauchen, bevor er die Dinge analytisch angeht, so wie er es immer gemacht hat. Neben ihm liegt der Krückstock, den er der Alten für hundert Mark abgekauft hat in der kleinen Holzbude »Zur Friedensgrenze«.
    Zwischen den Wäldern, wie in einer großen Schneise, sieht er die Lichter der Stadt auf der anderen Seite der Grenze. Sie verschwinden langsam im blassen frühen Tageslicht. Er hat lange keinen Sonnenaufgang in der Natur beobachtet. Nebel zwischen den Bäumen und überm Fluss. Er hört die Vögel, leise und von fern. Sein Pass steckt in der Innentasche. Wann hat er das letzte Mal das Land verlassen? »Manchmal denke ich, wir sollten unseren Kram packen und nach Südamerika verschwinden.«
    »Was willst du in Südamerika, die schleppen dich in den Dschungel und nehmen dich aus.«
    »Mondauge, wir leben in seltsamen …«
    »Immer dieselben Lieder.«
    Als er aufstehen will und zum Taxi humpeln, den Stock hat er in der Hand, hört er Musik. Gesang. Leise Echos. Er hat zu viele Tabletten genommen. Und dann sieht er das Schiff. Es fährt mit dem Strom, kommt langsam um die Biegung des Flusses. Noch halb vom Morgendunst verdeckt. Eine Art Ausflugsdampfer. Ein Schaufelraddampfer mit flachem breiten Schornstein, aus dem es nach Diesel riecht, ein Rauchfaden, der sich mit dem Nebel mischt, zwei Decks, die leer sind. »Am Brunnen vor dem Tore …« Er denkt, dass das vom Band kommt. Oder Platte. Wie Grammophon klingt es. Kratzig, mit einem Rauschen unterlegt. Furchtbar übersteuert. Er kann die großen Boxen auf dem Oberdeck erkennen, oder sind das schwarze rechteckige Kisten? Selbst die Vögel werden übertönt. Und dann das zweite Boot. Einige Meter dahinter. Ein kleines Polizeiboot. Es bewegt sich in Schlangenlinien übers Wasser, als würde es Abstand halten wollen, ein Geleitschutz. »… ich träumt’ in seinem Schatten …« Er rutscht, klettert die Böschung nach oben. Er ist sich nicht sicher, als er weiter nach oben zu einem kleinen Baum kriecht, den Krückstock in der Rechten, ob diese Musik nicht vielleicht aus dem grauen trichterförmigen Bordlautsprecher der Bullen kommt. Die Strophen mischen sich, die Liedfetzen verschwinden in den Wäldern und kommen zu ihm zurück. »Die kalten Winde bliesen / Mir grad ins Angesicht.« Jetzt sieht er eine Frau auf dem Oberdeck des Ausflugsdampfers. Sie zieht die Aufschläge ihres Mantels zusammen und stützt sich auf die Reling. Steht dort ein Glas vor ihr auf dem schmalen Metall? Sie geht ein paar Schritte und beugt sich nach vorn, weit über

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