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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hältst deine Tasse, den Arm angewinkelt und siehst sehr seriös aus. Wanderratten, denkst du, du bist immer eine Wanderratte gewesen. Saarbrücken, Essen. Nein, Essen – Saarbrücken – München – Hannover – Köln – Düsseldorf.
    Ob du mal in Wien gewesen bist, will sie wissen.
    Warum Wien?
    Ach nur so. Weil doch …, der Weg ist doch kürzer von …
    In Wien warst du schonmal. Natürlich. Und der Weg ist überhaupt nicht kürzer. Im Gegenteil. Ein Urlaub vor vielen Jahren. Zweiundzwanzig warst du da. Das ist nun fast dreißig Jahre her. Allein bist du gefahren, weil du es wolltest. Keiner hat dich jemals sitzenlassen. Weil du keinem die Chance dazu gegeben hast. Wanderratten, das ist nicht von dir. Das hat dir vor Jahren einmal eine alte Frau gesagt. So alt war die noch gar nicht. Sah aber alt aus. Auf der Toilette stehst du vorm Spiegel und siehst wieder, dass du noch nicht so alt aussiehst, wie du eigentlich aussehen müsstest. Weil du die Dinge an dir abprallen lässt. Dir fällt auf, dass deine Erinnerungen oft mit »vor vielen Jahren« losgehen. Wenn du sie aufschreiben würdest. Woran du schon oft gedacht hast. Ja, auch schon vor vielen Jahren. Die Geräusche des Cafés hinter dir, weil die Toilettentür sich öffnet. Ach du. Nein, eine andere Frau. Kurzer Blick, kurzes Lächeln. Die Frisur sitzt.
    Wieso bist du auf Wien gekommen vorhin?
    Nur so.
    Warst du denn schonmal in Wien?
    Nein.
    Nein?
    Ja. Mein Mann will immer nach Wien. In den Alpen waren wir schon paarmal … Noch einen Likör?
    Gerne. Schmeckt dir die Birne?
    Birne find ich gut.
    Dort, wo ich herkomme, brennen sie das selbst. In den Dörfern. Fast jeder Bauer brennt dort. Birne, Apfel, Quitte. Den besten Schnaps bei uns machte der Pfarrer.
    Bist du in der Kirche?
    Bist du in der Kirche?
    Nein. Sind nicht viele in der Kirche hier in der Zone.
    Zone … Du lachst. Sie lachen. Wir lachen.
    Aber viele schöne Kirchen habt ihr in der Stadt.
    Ja, das stimmt.
    Ist mir von Anfang an aufgefallen.
    Bist du schon lange …
    Du bist immer schon hier gewesen, stimmt’s?
    Stimmt. Hört man wohl.
    Ein bisschen.
    Sie bestellen zwei Gläser Birnenbrand bei einer Dame in Schwarz-Weiß, die ein leeres Tablett an die Brust drückt und die leeren Gläser dann auf das leere Tablett stellt. Und die Kuchenteller. Auf der Straße draußen vorm Fenster flanieren die Menschen. Schieben sich langsam an den Schaufenstern vorbei. Als sie vorm Spiegel stand, sah sie plötzlich die Arbeitsutensilien vor sich, auf einem Board unterm Spiegel und auf dem Rand des Waschbeckens. Sprays, Cremes, Gel, die Spender, die Bürste, das Mundwasser, die Rolle mit dem Küchenpapier an dem Halter in der Wand. Sie hört Stimmen von der anderen Seite. Essen – Hannover – Düsseldorf. Die Oberfläche des Spiegels wellt sich wie Wasser. Die Luft flimmert. Sie tritt einen Schritt zurück. Auch als sie dann wieder am Tisch sitzt, weiß sie, dass Distanz immer ihre erste Regel bleiben wird. Auf dieser Seite und auf der anderen.
    Sie könnte sagen: Distanz, zugleich freundlich und nett. Menschlich. Professionell. Ein Profi, eine Profi. Professionell zu sein bedeutete ihr immer viel. Es würde zu weit gehen zu sagen, dass es sie stolz machte. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die professionell Schönste im ganzen Land …
    Sie trinken Wasser, echt Selters, aus kleinen Flaschen und kleinen Gläsern, zu ihren Birnenbränden.
    Sie nippen, blicken sich um, setzen wieder ab. Weniger Bewegung auf der Straße vor der Scheibe jetzt.
    Ein schöner Nachmittag.
    Fast schon Abend.
    Gut, dass man frei hat.
    Gut, dass wir frei haben.
    Da sitzt man sich direkt fest.
    Ich mag es, dass die Musik hier nicht so laut läuft.
    Walzer. Bist du deswegen auf Wien gekommen vorhin?
    Walzer, ja. Hat du tanzen gelernt?
    Ich war auf der Tanzschule. Vor der Kommunion …, nach der Kommunion.
    Kommun-was?
    Du kennst nur Kommunismus.
    Du lachst und frierst dich wieder ein. Distanz. Dann machst du dich wieder locker. Gut, dass man frei hat.
    Sozialismus, sagt sie. In wenigen Jahren ist das alles vergessen.
    Wenn du mit wenig fünfzig meinst. So schnell geht das doch nicht.
    Fünfzig … Manchmal weiß ich nicht, ob das wenig ist? Ob das viel ist. Jahre …
    Jahre. Nach Wien solltest du unbedingt mal fahren. Ihr. Solltet ihr unbedingt mal fahren. Fährst du manchmal weg? Ich meine, richtig weit weg. Oder nach …
    Sie schweigt plötzlich. Sie schweigen. Leiser Walzer im Hintergrund. Das Gemurmel der

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