Im Stein
und in die Wohnungen.
Ich vermisse diese alten Straßenbahnen. Diese hellgelben kantigen Waggons. Nach der Wende fuhren noch ein paar von diesen Oldtimern, einige Jahre noch, soweit ich mich erinnere. Vorne hatten die nur einen runden Scheinwerfer, das sah geheimnisvoll aus in den Nächten, vor allem im Winter. Als ich ein Kind war. Und das Rumpeln und Quietschen in den Kurven. Und manchmal blitzte und knisterte der Strom zwischen Oberleitung und dem Bügel, bläulich. Auf die Locher, also die Entwerter für die Fahrscheine, musste man draufhauen, richtig doll draufhauen. Wie das immer knallte. Und immer verschieden das Muster der kleinen Löcher in der Pappe. Das war doch Pappe?, damals. Wie die Zugfahrkarten für den Bummelzug auf dem Land. Wenn wir über die Dörfer fuhren. Wie grau die Gesichter am Morgen sind. Der vor mir breitet die Zeitung aus wie ein Segel. Da lese ich anfangs ein bisschen mit. Sie schreiben was über die Engel. Und über den Mann, der aus Versehen erschossen wurde. Ich glaube, dass ich den kannte. Bin aber nicht sicher. Dass der mal bei mir gewesen ist. Was die Leute wohl so denken, wenn sie wüssten … Dabei ist das alles ganz solide. Seit dem Gesetz führt der Alte, also mein Chef, jeden Tag fünfundzwanzig Euro Pauschale ans Amt ab, also an die Steuer. Ich rechne manchmal, wie viel Rente ich mal kriege. Der Morgen spielt in meinem Kopf und spült alles durcheinander. Ich bin müde heute. Das ist selten, weil ich doch immer schon ein Frühaufsteher war. Der frühe Vogel … »stirbt im Sturm«, sagte einmal eine …, kann das sein, dass das jetzt losgeht mit dem Vergessen, weil ich mir doch früher die Namen immer merken konnte. Die war aber auch nur kurze Zeit bei mir in der Wohnung. Die hat studiert. Hat sie jedenfalls gesagt. Und das stand auch tatsächlich so in der Annonce. Weil der Chef sagte, dass auf sowas die Leute stehen, dass da die Gäste scharf drauf sind, wenn sie vorher lesen: »Studentin, jung«, und weil er wohl dachte, dass das die richtige Kombination wäre. So à la Mutter und Tochter. Jetzt sind wir manchmal ’ne richtige Rentner-WG. Wenn die Birgit auch da ist. Und tatsächlich hat das Mädel immer mal Bücher mitgehabt und gelernt, also drin gelesen und Notizen gemacht undsoweiter, und manchmal auch mit Laptop. Jura war das wohl. Wenn wir manchmal ins Plaudern kamen, wenn grad nicht so viel los war, ich kann mich noch genau an die Januar-Flaute vor zwei Jahren erinnern, dann erzählte sie, dass sie Anwältin werden will. Ich meine, das ist doch verrückt. Da denkt man doch, dass die aus reichen Verhältnissen kommen. Aber die kam vom Dorf, und wenn das später mal irgendwie rauskommt, kann sie doch ihren Laden zumachen, da kann sie doch einpacken, wenn ein Gast sie wiedererkennt. Stell dir mal vor, du bist vor Gericht, und dann sitzt da der Staatsanwalt oder der Richter, der so eine richtige Drecksau war, und wie du den scharf gemacht hast, damit er schön wiederkommt und löhnt, das ist sicher für beide peinlich, aber sie wollte wohl eh rüber in den Westen dann, in eine große Stadt, vielleicht auch Berlin, aber in München oder Hamburg, da kann man ja von vorne anfangen, das ist weit weg. Die trank immer Milchkaffee. Latte macchiato. Was wohl dasselbe ist. Brachte sich immer, wenn sie kam, nachmittags meistens, und auch nicht jeden Tag, nur in den Semesterferien zog sie durch, das hat sie alles mit dem Alten so vereinbart, die kam also immer mit einem großen Pappbecher, der Schaum war schon lecker, das muss ich zugeben, aber ich mag eher das Modell Filterkaffee. Trink ich viel zu viel, und neuerdings krieg ich Sodbrennen und nehme deshalb so ein Magengel. Rezeptfrei. Ich bin ja privat versichert und versuche, wenig auf Rezept und mit Arzt zu machen, weil dann die Beiträge steigen, aber ich krieg jedes Jahr was zurück bis jetzt, da klopfe ich dreimal an die Scheibe. Weil krank werden möchte ich nicht, aber wer möchte das schon, aber bei uns ist das immer blöd, weil dir ja keiner das Gehalt weiterzahlt. Da sitzt man dann zu Hause und verdient nichts. Oder liegt im Spital, wenn’s ganz blöd kommt. Für die Kasse bin ich selbständige Masseuse und Osteopathin. Und im Prinzip stimmt das ja fast und ist nicht so weit weg von meiner Arbeit, von der großen Kleeche. Das Wort kennt kaum noch einer von den jungen Mädels, und die Birgit sowieso nicht. Kleeche. Sächsisch ist das. Hart arbeiten meint das. Kurz lehnt meine Stirn an der Scheibe, aber die ist
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