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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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ein, wenn sie schläft.
    Dort hängen die Crashkids rum. Die gibt’s auch in meinem Viertel, aber viele sind in den Süden gegangen, wo die Punker die Häuser besetzen, weil sie dort sein dürfen. Das sind Kinder, genau wie ich, nur ein bisschen älter, wenn überhaupt. In den Nächten habe ich die oft getroffen. Sogar in der »Bravo« stand was über sie. Vielleicht steht ja auch mal was in der »Bravo« über uns. Aber auch dort durfte ich schlafen. Später haben die da einen erschossen, aber damit hatte ich nichts zu tun. Das kann ich jetzt noch nicht wissen.
    »Was ist das?«
    »Ich schieß die Goldwolke mit Antigravitationsstrahlen in die Stratosphäre! Ganz einfach!«
    Und mit der Straßenbahn fahre ich durch die ganze Stadt am Morgen. Ich habe mich bei denen in einer Kneipe gewaschen, also in einer Kneipe, die die Zecken da haben. Weil ich sauber sein wollte, wenn ich am Flohmarkt bin, wo die ihren Stand aufbauen. Lippenstift und was gegen die Pickel habe ich bei Schlecker geklaut. Da haben sie mich noch nie erwischt. In der Straßenbahn habe ich geschrien und geheult und gesagt, dass meine Mutti zu früh und aus Versehen ausgestiegen ist. Und denen dann die Adresse von einer Schulfreundin gegeben. Weil eine richtige Freundin war das nicht.
    Weil ich doch hübsch aussehen will, wenn ich an dem Stand bin. Die kennen mich ja schon. So viele Comics hab ich dort gekauft. Dass jemand Kontrolleur wird, kann ich nicht verstehen. Aber jetzt sind so viele arbeitslos, und wenn ich Geld hätte, also mehr Geld hätte, denn ein paar kleine Scheine hab ich noch in meinem Rucksack versteckt, dann würde ich mir auch eine Fahrkarte kaufen. Am besten eine Monatskarte. Mit der könnte ich durch die Stadt fahren. Durch jedes Viertel. Hin und zurück. Und sogar mit der S-Bahn, wenn ich die teure kaufe, da kann man sich auf die Bänke legen und schlafen, zwischen den Endstellen.
    Diese Crashkids im Süden wohnen auf einem Hinterhof und in einem Haus. Auf dem Hof verstecken sie die Autos, wenn sie die nicht irgendwo schon kaputt gefahren haben. Ich glaube, dass die verrückt sind. Aber sie waren immer o.k. zu mir, in den zwei, drei Nächten, wo ich bei ihnen geschlafen habe.
    Und ich glaube, dass ich da auch länger bleiben darf. Und dann sitze ich an dem Baum und schaue den Männern bei der Arbeit zu. Später habe ich dann mal mitgemacht und die Kisten mit den Comics und Videos zu den Verkaufstischen getragen. Weil der Junge, der Robert hieß, mich gefragt hat. Mich drum gebeten hat. Weil er mich schon so oft dort gesehen hat. Und vielleicht hat ihm auch der Lippenstift von Schlecker gefallen. Das war mein Schönstes, wenn ich mich so erinnere, und das klappt manchmal gut und manchmal schlecht. Mein Schönstes in den letzten Jahren. Wie ich da die Kisten tragen durfte. Und auch von mir aus. Weil ich helfen konnte.
    Tina erzählt mir über ihren Vater. Den sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. »Ewigkeiten? Du bist doch erst dreizehn!«
    »Vierzehn!«
    »Hast du Geburtstag gehabt?«
    »Interessiert doch eh keinen.«
    »Doch, doch, doch. Ich will’s gerne wissen. Und ich will dir was schenken.«
    »Was denn?«
    »Na warte, na warte mal!«
    Es ist die Zeit, in der sie nackt sind. Er ist immer da, fast immer da, und stellt sie den Männern vor. Tinas Vater hatte wohl was mit Pferden zu tun. Er trinkt, und deswegen sieht sie ihn nicht mehr. Weil ihre Mutter nicht will, dass sie ihn sieht. Weil er trinkt, weil er traurig ist. Und sein Geld verspielt. Und Tina erzählt viel, und sie weiß nicht, was davon stimmt. Und Tina auch nicht, denkt sie manchmal. So wie London, so wie die Queen, aber das ist lange her. Manchmal, wenn sie mit ihm im Auto sitzt, glaubt sie wirklich, dass sie mit ihrer Mutter in London war. Dann sieht sie alles von oben. Wie von oben. Den Tower und die Themse und den Flohmarkt und sich selbst und Tina und an den Rändern der Bilder den Schnabel der kleinen Ente, der ins Bild hineinpickt. Sie friert. Sie sieht die Bilder der Nummer 86 zwischen den Speichen des Fächers an der Wand. Sie beginnt zu zählen. Es spielt keine Rolle mehr, was sie denkt. In ein paar Wochen darf sie nach Hause. Sagt er . Sie weiß nicht, was sie zu Hause soll. Sie ist sechzehn, aber eigentlich fünfzehn, und sieht sich von oben. Weit weg. Ganz klein sitzt sie auf dem Sofa und bewegt den Kopf vor und zurück. Vor und zurück. Ein Entenschnabel pickt. Sie presst die Beine zusammen. Damit sie einen Entenschnabel hat, rasiert er sie. Die

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