Im Stein
Händen.
Und unter dir die Stadt. Der Morgen ist grau. Und kein Berg hinter den Wolken. Wo soll der auch sein, wo du ihn nur einmal gesehen hast, zu sehen geglaubt hast, als du aus dem Fenster des Zuges blicktest. Die Stadt liegt ruhig, und nichts bewegt sich dort unten. Du siehst kleine weiße Flächen zwischen den Straßen und Wegen. Es muss geschneit haben. Und du richtest dich auf und gehst zum Bett. Wirfst deine Zigarette in den Ascher. Du bist nackt. Als du dich auf die alte Frau legst, erwacht sie. Sie hat ein blaues Tuch um ihren Kopf gewunden. An den Seiten siehst du die Spitzen ihres hellen Haares. Du packst sie an den Schultern. Ihr Schamhaar ist grau. Eine lange Narbe zieht sich von dort bis zu den Rippenbögen unter ihren kleinen hängenden Brüsten. Sie ist ganz still, und dann sitzt sie auf dir, und du spürst ihre Hände um deinen Hals, auf deinem Hals. Du gehst langsam durchs Portal des kleinen Tempels. »Ein Dämon, ein besessener Stier, hat dort einst gewütet. Sie haben sein Haar aufgesammelt und in einen Schrein gepackt. Heilig. Bleib endlich liegen, du verdammter Gaijin, Arnold-San.«
Und du durchschreitest die Türen zwischen den Wänden aus Papier. Gehst durch das gelbe Licht wie durch einen Tunnel. Siehst zwei Kinder, die sitzen an einem Tisch. Sie tragen haarige Gewänder, du kannst ihre weiße Haut zwischen den Fellen sehen. Sie hantieren mit Papieren, die vor ihnen auf dem Tisch liegen. Sie reichen sich die Hände über den Tisch hinweg. Sie blicken dich an, und du erkennst dich selbst in den runden Spiegeln ihrer Augen.
Früher Abend in Eden City
I
Ecki geht über den Naschmarkt: Der »Tote Eisenbahner« ist genau null Komma neun Kilometer vom Naschmarkt entfernt. Steht auf dem Touristenwegweiser, der ist auf alt gemacht, mit verschnörkelter Schrift, und weist auch nicht den »Toten Eisenbahner« als null Komma neun Kilometer entferntes Ziel aus, sondern den Zentralbahnhof. Ecki geht zum Zentralbahnhof, nicht nur, weil der dort der »Tote Eisenbahner« ist, er will auch Geld ziehen. »Abziehen«? Nee, mich zieht nicht einer ab! Keine? Oder keiner? Scheißegal. Hauptsache keine Keime. Wir schützen uns! Gib mal die Kanne rüber! (»Abziehen« im Sinne von: »Nachkobern, vor gar nicht langer Zeit durchaus üblich. Erst wurde der Freier gekobert. Erlag er dann dem Werben der Prostituierten und vereinbarte eine Dienstleistung, zum Beispiel Französisch, konnte es passieren, dass die Dame, sofern sie ihren Liebeslohn bereits im Vorfeld erhalten hatte, auf dem Zimmer nur Französisch mit ihm sprach.« Lexikon der Prostitution, 2003. Ecki taumelt raschelnd durch die Seiten und die Jahrzehnte.)
Ecki sitzt im »Toten Eisenbahner«, oberhalb der Treppe, die zu den Bahnsteigen führt. Register:
Frank ist da, abziehen! Nee, mich zieht Reiner ab! (Nichtmal beim Skat.) Wenn’s mal was zu lachen gibt! Reiner sitzt ganz hinten am Tresen und trinkt Schnaps. Der Erste, sagt er, ist schon fünf. Verzeihung, der Herr, der Friseur ist gegenüber. Bernd ist da, die Steinfresse ist da, den kennt keiner und niemand, der sitzt nur rum seit zehn Jahren. Stasi, oder was, ehemalig? (Geflüster: Frank, Reiner, Bernd sind diskret. Ecki auch.) Oder im Stein? Kiste, Knast, Café Viereck. Also gewesen, anno danno. Stein macht schweigsam. Und Stasi meschugge? Biste aus Berlin, oder was? Burg, Bunker, blauer Sarg. Was hat’n das jetzt damit zu tun? In eine Kanne Bier im »Toten Eisenbahner« passen zwei Liter.
Wenn wir heute nicht rauskriegen, warum die Steinfresse nie einen Ton sagt …
Musste nicht weiter, Ecki?
Hauptsache heiter. Sterben muss ich.
Ecki geht über den Naschmarkt und lacht. Weil er nicht genau weiß, warum der Naschmarkt Naschmarkt heißt, und weil er immerzu ans Naschen denkt und weil’s noch einen Neumarkt gibt, und ans Geldziehen und an den »Toten Eisenbahner«. Und weil er riesige Farne sieht, die in den kleinen Gassen wachsen. Die brechen aus dem Boden und wachsen am Stein empor. Donnerstag. Da denkt er ans Donnern. Bumsen. Und die U-Bahnen rumpeln unter seinen Füßen. Gleich hinterm Naschmarkt ist auch der Marktplatz. Wie heißt der »Eisenbahner« wirklich? »Gleisbar 8«? Oder »Bahnhofsbar Gleis 8«? Komisch, dass man nicht mehr auf das Schild achtet, dabei leuchtet das den ganzen Tag, auf dem Zentralbahnhof ist’s immer irgendwie dunkel. Obwohl sie den generalüberholt haben vor über zehn Jahren mit viel Glas. Nee, muss noch länger her sein. In den Rundbögen sitzen
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