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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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dreißig Jahre her, und damals hattest du noch nicht die Kraft, es als Lust zu empfinden, als Ansporn … Dann musst du eher kommen, hat dieser Typ gesagt, ein alter Mann, der Wächter der Lebensbäume, du musst eher kommen, da sind unsere Studenten da, die können dir viele hilfreiche Sachen sagen, damit dein Vortrag richtig gut wird. Der Alte hört nicht auf zu erzählen, und er steht ganz dicht vor dir, und hinter dir die Blätter und Zweige, und er spricht so feucht und riecht sauer aus dem Mund, dass du dich abwenden möchtest, und du spürst die Früchte und Knollen auf deinem Rücken durch den Stoff. Der Alte streicht dir durch die Haare, seine Finger sind so hart und schwielig wie diese langen Knollen, die du vorhin erst befühlt und dann abgerissen hast. Komm doch morgen nach der Schule, wann musst du denn deinen Vortrag …, und dann sind unsere Studenten hier … Du bist nie mehr in den Botanischen Garten gegangen, und die Finger des Alten waren noch auf deinem Kopf, als du schon längst zu Hause warst.
    In deinem Zimmer hast du deine Beute mit deinem Taschenmesser zerkleinert, wie lange das gedauert hat, und die kleine Klinge war viel zu stumpf. Du bist in die Küche gegangen und hast ein großes Brotmesser geholt, das besonders scharfe, und dann hast du alles in dich reingeschlungen, weil du so lange leben wolltest wie Thor und Herakles. Geschissen und gekotzt hast du, die Götter hätten es nicht besser gekonnt, noch den nächsten Tag, dass du nicht zur Schule gehen konntest, und als du wieder gesund warst, hat Mutter dich geprügelt, und das hat sie sonst nie gemacht, mit dem Pantoffel, und geheult hat sie und geschrien: »Junge, mach mir nie wieder solche Angst!«
    Du liegst auf dem Rücken und hörst das Knallen der Zündplättchen, Peng! Peng! Peng!, und blickst in den Himmel, die Sterne … Alex muss in den Stein, wenn es schlecht läuft, das Pflaster ist kalt unter dir, es war so schön, auf der Wiese zu liegen, ob ihm die Anwälte helfen können? Deine Anwälte sind die besten in der Stadt, und nicht nur in der Stadt, wie oft haben sie dich rausgehauen, wie oft haben sie deine Leute rausgehauen und deine Mädels, auch die Beatriz vor kurzem, als das Mädchen bei Lady Kira halbtot im Schrank hing, aber Alex hat wieder mal Scheiße gebaut, du hast es ihm immer wieder gesagt: »Wenn du nicht aufpasst, musst du weg, und ich brauche dich hier.«
    Und diesmal wird’s schwer, ihn aus der Sache rauszuhauen, du weißt das, auch wenn er’s noch nicht wahrhaben will. Vielleicht wolltest du deshalb nicht, dass er mitkommt heute, in dieser Nacht, und wenn du wieder auf den Beinen bist, wirst du dafür sorgen, dass seine Zeit kurz wird dort. Im Ring ist er kein König, aber ganz gut, nein, du hast keine Sterne gesehen, die Wolken treiben immer noch über den Nachthimmel, und auch wenn sie nicht da wären, man sieht keine Sterne hier, nicht einmal draußen bei dir am See siehst du die Sterne so, wie du sie auf dem Land siehst, in den Bergen, wenn dir hier alles zu viel wird. Im Ring ist er kein König, obwohl er ganz gut ist, ein Graf vielleicht, aber auf der Straße …, so wie du früher … Wie oft hast du ihm gesagt in der letzten Zeit: »Einen Kampf gewinnst du am besten, indem du ihn vermeidest.« Du hättest sowas nie gesagt, früher … AK 47. Was das für Zeiten waren. Ist das jetzt die Quittung für all die Gewalt, das Schicksal, an das du manchmal noch glaubst? Blödsinn, nein! Du wärst nicht dort, wo du jetzt bist, ohne all das, ohne die Kämpfe, ohne die Fäuste, vergiss die Straße und den Dreck, in dem du jetzt liegst, du bist oben, verstehst du, oben! Und du willst noch weiter und höher kommen, und deswegen musst du hier weg und zurückschlagen und alles ins Reine bringen! Und du schreist und wunderst dich, wie hoch und dünn deine Stimme klingt. Vergiss deinen Stolz und schrei! Schrei um Hilfe. Und dann versuchst du, dein Handy wieder zusammenzubauen, aber der verdammte Akku ist unter das Auto gerutscht. Wieso hast du dein anderes Handy zu Hause gelassen? Du wärst früher nie mit nur einem Handy in die Nacht gegangen … Aber früher war ein Handy groß wie ein Ziegelstein, einen Ziegelstein hättest du auf seinen Schädel krachen lassen sollen, immer und immer wieder, bis er am Boden und im Dreck gelegen hätte, und das Pflaster wäre dunkel geworden unter ihm, und du hättest den Stein mitgenommen und ihn da vorne von der Brücke in den Fluss geworfen.
    Jemand muss dich hören,

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