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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hier oben, hier bei uns. Die kurzen Tage und Stunden der Lüge. Warum eigentlich? Warum Lüge? Weil wir doch sind und weil wir doch hier sind. Ist das nicht alles, und ist das für uns alles ?
    Champagner zu trinken … Wie Audrey Hepburn. Und er erzählt. Erzählt von seinem Sohn. Wie kann ich ihm böse sein, sagt er, wenn er doch so ist, wie ich früher war.
    Ich streiche über die Narben auf seinen Beinen. Erst links, dann rechts. Darüber erzählt er nie. Das muss vor elf Jahren gewesen sein, ungefähr, ich will nicht zählen. In der Zeit bin ich in Köln gewesen. Habe mich mit meinen Mädels getroffen, arbeitete noch als Nageldesignerin, und wir hatten unseren kleinen Treff, Kaffee, Prosecco, Dom Café, Transenclub, wir warteten alle auf das Jahr mit den vielen Nullen. Da lachten wir drüber später. Da waren wir noch Exoten und Extravaganzen auf dem großen roten Markt. Und lachten über die Männer, diese Nullen, die uns das Geld brachten, weil sie wild drauf waren, dass wir, dass sie … Bück dich, mein Ladyboy.
    Vater?
    Ja, mein Sohn?
    Du triffst dich mit den Homos?
    Mein Junge, du weißt, was das Geschwätz anrichten kann.
    Du triffst dich mit einer Transe, Vater!
    O son, my son, what have you done.
    Ich wache auf. Und ich sage, dass wir los müssen, dass die Musik beginnt, und spüre dann, dass ich immer noch nicht ganz da bin, meine Hand kraftlos auf ihrer Schulter, und dass ich gleich wieder in den Traum zurücksinken kann, mein Sohn, das Bettlaken voll Blut, das Kissen voll Blut, was tue ich nur?, spielt es eine Rolle, was ich tue? Lass sie in Ruhe, Sohn! In diesen Zeiten. Zu verschwinden, nach all den Jahren. Oder: Jetzt erst recht. Die Dispute nehmen zu, aber ich bin noch da. Der Alte geht nicht, oh nein , der Alte kämpft. Setzt ein Zeichen, als er einen der frisch geborenen Engel weghaut, den er seit Jahren kennt, aber der die Territorien und Aufgabenverteilungen nicht akzeptieren will, die neue starke Macht im Rücken, als neugeborenes Mitglied im Wartestand, Die Engel kommen in die Stadt! Hurra, sind schon da! , die er, der Alte, der Manager (»Manager? Ich bin Unternehmer, das ist ein Unterschied. Ich plane, unternehme, investiere, erweitere. Aber ich grabe mir und uns nicht selbst den Boden weg auf Dauer, wir holen nur Geld, wo Geld ist, einfacher Deal.«), die er einst und vor nicht allzu langer Zeit auch in die Stadt einlud, Eden City, Markt der Träume. Der Alte hat seine Leute, was will er mit dir? Und er haut ihn weg. Als er frech wird. Ein Fußtritt zum Kopf, ein Kick an die Schläfe. Und der geht zu Boden. Ich stehe, der Alte, der Mann, der verschwinden möchte, aber doch kämpft. Der zu müde ist, um noch viel länger zu kämpfen. Der dachte, dass die Geschäfte laufen und laufen und er die Ruhe hat, mit einem Boot, einer kleinen Jacht, über den See zu fahren. Zu reisen und zurückzukommen. Kunst zu sammeln. Und den Fluss des Geldes zu lenken, wie in all den Jahren. Fast war er erschrocken, wie schnell er den frisch geborenen Engel auf den Boden brachte. Als wäre er wieder fünfzehn Jahre jünger. Wie vor der Nacht in jenem Jahr, im Herbst jenes Jahres. Träume? Nein, Kälte. Aber warum dann sie ?
    Und immer noch tut ihm der Rücken weh von diesem unverhofften Kick, die dünne Haut über der rechten Narbe ist aufgeplatzt, nur wenig Blut, der am Boden blutet gar nicht und versucht, wieder hochzukommen, wochenlang tut ihm der Rücken weh, und sie sitzt auf ihm, während er auf dem Bauch liegt, massiert seinen schmerzenden Rücken, und er spürt ihren kleinen Schwanz ganz zart auf seiner Haut.
    Champagner zu trinken, Hormone zu schlucken, Frau zu sein. Und er redet im Traum, seine Hand auf meiner Schulter. Sie fühlt sich kalt an und bewegt sich, und ich sehe auf seiner Uhr, dass es zehn nach sieben ist. Die Musik beginnt in fünfzig Minuten. Ich war einmal mit meinem Vater bei einem Konzert gewesen und einmal in der Oper. Was Italienisches natürlich. Mahler will er hören. Mich hat noch nie ein Mann zu einem Konzert eingeladen. Irgendwelche Festspiele sind in der Stadt. Ich kenne Mahler nicht besonders gut. Vielleicht mal was gehört, kann mich aber nicht konkret erinnern. Früher hörte ich oft das Klassikradio oder die jeweiligen regionalen Kulturprogramme. Weil mich Klassik immer beruhigt. Die Filmmusik von diesen alten Schnulzen habe ich immer gemocht. Ist ja auch wie Klassik, Audrey Hepburn, »Giganten« mit der schönen Loren, die beiden habe ich eigentlich am meisten gemocht,

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