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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hinter mir ist und sich an mich lehnt. Wenn ich drüber nachdenke, darf ich gar nicht drüber nachdenken. Ich würde ihn ja nie fragen, wie alt er ist. Ich weiß es nur ungefähr. Da bin ich so froh, dass er nicht mein Vater sein könnte, altersmäßig, sonst würde mir das schon …, weiß nicht. Also fast nicht. Vater. Altersmäßig. Obwohl es schon möglich wäre. Nur theoretisch. Ich bin jetzt einunddreißig, ein Löwe ein Löwe ein Löwe, total bescheuert, und er muss so an die Fünfzig sein, eher noch drunter. Genau weiß ich es aber nicht. Seine kurzen silbernen Haare. Dass er so grau ist. Und dass er Angst hat. Nicht vor mir. Oder doch vor mir. Und doch vor so vielen. Vielem. Dass sie ihm alles wegnehmen wollen, sein Geschäft, aber was weiß ich schon davon. Gut so. Da sind seine Hände in meinem Nacken. Auf meinem Nacken. Da fährt er mit seinen Händen über meine Brüste. Da gibt er mir seine Zigarette. Und auch wenn ich nur selten rauche, weil sich das nicht verträgt mit meinen Tabletten und überhaupt, rauche ich mit und atme den Rauch aus, sein silberner Kopf, sein Rücken, an den ich meine Brüste drücke, presse. Unsere Arme verwirren sich. Wie ich aus dem Kino komme. Dass ich immer denke, ich müsste meine Haare wachsen lassen. Nennt man das Pagenschnitt ? Seine Hände auf meinem ausrasierten Nacken. Und dann doch wieder die Angst zwischen meinen Beinen. Wie ich aus dem Kino komme. Wie ich wegrenne. Wie ich zwar eine Hose anhabe, eine Art Leggins, aber drüber ein ganz langes T-Shirt. Wie ein Kleid. Fast bis runter zu den Knien. Wie ich mir das vorher so ausgesucht habe. In Hellblau. Und die Haare im Pagenschnitt. Obwohl das schon auch Jungs-mäßig war, hat ja Mutti geschnitten. Und Lippenstift von Mutti. Ja, heimlich. Was ich mich nie getraut habe. Und nie gewusst habe, ob ich das machen soll. Ob ich das machen darf. Und gewusst hab, dass das nicht geht. Und vorm Spiegel gestanden und geguckt, ob meine kleinen winzigen Brüste nicht doch wie die eines Mädchens werden. Hab den Oberkörper durchgedrückt, dass es mir überm Po, hinten im Rücken, schon fast weh tat. Und ganz enge Schlüpfer. Damit er sich ganz eng ans Bein drückt, weg ist. Und bin extra ganz weit weg gegangen ins Kino, in unserer kleinen Stadt, in ein kleines Kino am Stadtrand. Da konnte man die Fabriken sehen, die Zechen, die schon fast alle stillgelegt waren zu der Zeit. Anfang oder Mitte der Neunziger, ich will nicht zählen. Mit zwanzig habe ich angefangen zu arbeiten. Weil ich dachte, dass ich dann so Frau sein kann, wie ich das bin, dass ich das dann endlich in der Öffentlichkeit sein kann. Was für ein Unsinn, denke ich heute. Was für ein süßer Ladyboy!
    Ich war Nageldesignerin. An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern. Weil ich es verdränge, weil ich diese Erinnerungen abschneide, weil es Qualen sind und weil ich jetzt sein will, und hier. Ich spüre seinen Schwanz in mir, mit ihm ist es jedes Mal, als wäre das alles neu und voller Sehnsucht. Ich habe mir das Recht auf ein bisschen Kitsch, auf ein bisschen Gefühl so lange aufgespart. Fick mich, fick mich! So feuere ich die Gäste an, damit sie schneller spritzen, damit ich sie abhaken kann und nur noch das Geld sehen kann. Es ist dumm, wie oft man sagt, dass man sich geborgen fühlt, wie so etwas zu fühlen ist, verstehe ich nicht. Aber jetzt schon. Ein wenig. Der graue Mann, ich glaube, dass ich Angst hatte vor ihm. Anfangs. Oder Achtung, Respekt, wollte Distanz wahren zu diesem Mann, der mir kalt erschien, der mir fremd erschien. Und weit weg. Auch wenn er mit dir redete. Vielleicht war das die Bedrohlichkeit, das Gefühl von Angst. Denn Angst hatte ich natürlich nicht. Ich bin in Freiburg gewesen, in Köln, in Bremen, in Bochum, Laufhäuser, Massage-Salons, Clubs, Wohnungen, Hotels … Champagner zu trinken. Was für ein geiler Ladyboy!
    Mein Schwanz ist sehr klein und spielt für mich keine Rolle, wenn man das so sagen kann. Zwei Freundinnen von mir, die ich in Köln kennengelernt habe, sind jetzt ohne. Ich fühl mich als Frau und bin’s auch. So oder so. Und ich mag es gar nicht so sehr, wenn man mich da anfasst. Meine Brüste sind sehr schön, durch die Hormone und zwei kleine Polster. Ich bin immer schon eine Frau gewesen, ich bin immer schon ein Mädchen gewesen. Wir können nicht verstehen, warum es uns so schwergemacht wurde, so zu sein, wie wir sind. Mein Vater ist Italiener, aus einer Gastarbeiterfamilie. Katholisch. Streng, wie man so sagt. Ich

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