Im Stein
andere Frau ist barfuß. Er steigt vorsichtig zu ihnen hinunter. Seine gelben Stiefel versinken schmatzend im Boden. Fast bis zum Schaft sinkt er ein. Sieht dann das schlammverschmierte Brett, mehrere Bretter nebeneinander, auf die er steigt. Er bekommt die Stiefel kaum aus diesem saugenden Grund. Von hier aus haben die Kollegen wohl die drei, diese drei Fragezeichen, vorsichtig freigelegt. Schlamm und Erde und Torfmoose stehen in Kunststoffkisten und zwei Zinkbadewannen am Ufer. Um sie später durchzusieben, auf der Suche nach dem Gold oder wenigstens dem Goldstaub eines Indizes. Das Bein ist verschwunden. Oder an einer anderen Stelle im Schlamm? Nachträglich im hohen Bogen hineingeworfen vom Entsorger, beschwert oder unbeschwert. Ein Sumpf gibt nichts mehr frei. Das Eigengewicht allein zieht dich in die Tiefe. Die Frau, die allein liegt, ist nicht beschwert. Zumindest nicht sichtbar. Sie haben ihm gesagt, dass sie schon halb auf der Schaufel des Baggers gehangen hat, der sich, vom Ufer her kommend, immer weiter in den schon zur Hälfte trockengelegten Sumpf grub. Ein Schreck am Morgen. Er kippte die Schaufel an, wie im Affekt, zurück mit dir!, und der Körper glitt wieder zu den beiden anderen. Er zieht sich die Gummihandschuhe über. Kein Geruch nach alten Leichen, nach zerfließenden Körpern, den er so oft schon gerochen hat. Er hat immer eine dieser kleinen Döschen mit Chinasalbe einstecken, die er sich dann unter die Nasenlöcher reibt. Ist auch gut gegen Kopfschmerzen. Oder wenn man erkältet ist. Ein Klassiker. Er berührt das Gesicht der Frau, die auf der Seite liegt, zusammengekrümmt neben dem Mann. Wie Holz, wie Leder, Stirnfalten noch erkennbar, die Lippen leicht geöffnet. Die Zähne schwarz. Aber vielleicht ist das nur das Moor, das in ihre Mundhöhle eingedrungen ist. Wieder berührt er ihr Gesicht mit den Fingerspitzen und wundert sich, wie weich und elastisch sich ihre Haut anfühlt. Er spürt und hört, wie er leise vor sich hin summt. Oh my lover . So gut erhalten, wie die drei aussehen, muss dieser Teil des Moores relativ trocken gewesen sein. Später bestätigt das der Moorexperte, der seinen Vortrag über »Moorleichen und die Konservierung in Mooren« im Präsidium hält, die »SOKO Moorleichen«. Sie lernen alle eine Menge. Ein wenig ratlos hockt er auf den Brettern zwischen den Körpern. Immer noch beugt er sich über die Frau. Es ist für ihn nicht zu erkennen, wie sie gestorben ist. Ihr Hals scheint ein wenig deformiert zu sein, aber ihr ganzer Körper ist verkrümmt, als hätten die chemischen und biologischen Vorgänge in diesem luftdichten Raum ihren Knochen den Halt genommen … Keine Haltung jedenfalls.
Jetzt erst sieht er, dass sie nackt ist. Was er für ein Kleid hielt, ist angetrockneter Schlamm. Pflanzenpartikel. Wenn sie schon auf der Gabel des Baggers hing, dann lag sie sicher vorher anders, aber es scheint ihm, dass sie seit Jahren so auf der Seite gelegen hat. Eine Hand, einen Arm auf den Bauch gelegt, unter ihre Brüste, als wollte sie sich schützen, jetzt sieht er etwas auf ihrem Leder-Dekolleté, das ein Loch sein könnte, eine Schusswunde, eine Stichverletzung, aber das müssen andere feststellen, Gerichtsmedizin, er hebt ihren Körper kurz an. Was passiert mit dem Fleisch der Toten, wenn sie einmal in diesen schlammigen Tiefen verschwinden? Später hört er sich die Sätze auf seinem Diktiergerät an. Und hört das Hintergrundgezwitscher der Vögel. Und ist ein wenig durcheinander, weil er später den Vortrag des Moorkundigen aufgenommen hat. Nicht alles, aber immer mal wieder, wenn es ihm interessant schien, drückte er auf die Aufnahmetaste.
Da liegt ein Mann ohne Bein. Festgebunden auf einem kleinen Betonsockel. Das linke Bein ist direkt unterhalb der Hüfte abgetrennt. Die Konservierung hat auch hier bereits eingesetzt. Die Hautfarbe ist stellenweise noch erhalten. Braun, dunkelbraun. Weiß und gelb durchsetzt. Die andere Frau, die weiter weg liegt, sehr dunkel, sehr schwarz. Keine helle Haut. Mehr wie Bitumen. Bei Berührung fühlt sich auch diese Haut sehr weich an und beinahe elastisch. Drücke meinen Finger rein. (…) ja, ist gut, ich schaue, wirf runter, wo denn sonst!
Große Löcher in der Brust dieses Mannes. Eindeutig sichtbar. Einschusslöcher. Sieht großkalibrig aus. Die Kleidung weitflächig zerfetzt, die Einschusslöcher teilweise faustgroß. Beide Körper haben den gleichen Betonsockel untergeschnallt. Sieht aus wie Wäscheleine. Wäscheleinen.
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