Im Strudel der Gefuehle
noch ein Kind!«
Jessica redete weiter, als hätte sie Wolfe gar nicht gehört. Sie hatte den Kampf gegen die Flut der Erinnerungen aufgegeben. Alles, was sie jetzt noch wollte, war Wolfe klarzumachen, daß sie sich nicht von ihm zurückgezogen hatte, weil sie sich vor ihm ekelte.
»Manchmal hatte sie nach wochenlangen Quälereien einfach eine Fehlgeburt«, fuhr Jessica unerbittlich fort. »Es kam auch vor, daß das Kind trotz ihres endlosen Erbrechens und ihrer Schwindelanfälle zu wachsen und gedeihen schien. Dann färbte sich ganz langsam ihre Haut gelb, und wenn sie sich schon vor Schmerzen wand, setzten endlich die Wehen ein; meistens wußte sie in diesem Moment bereits, daß das Kind tot zur Welt kommen würde. Niemand aus dem Dorf wollte sich um sie kümmern, weil alle glaubten, es laste ein Fluch auf ihr. Ich war die einzige, die bei ihr blieb.«
»Jessi...« Wolfe schwieg betroffen.
»Jedesmal, wenn alles vorüber war, habe ich die winzige Leiche gewaschen und ihr das Taufkleid angezogen. Alle waren so bleich und wächsern wie Puppen oder wie die marmornen Grabsteine, die wir für sie aufgestellt haben. Sechs Grabsteine, fein säuberlich in einer Reihe.«
Mit vor Schrecken geweiteten Augen starrte Jessica ihn an. »Ich habe mein möglichstes getan, um sie vor dem Wind zu beschützen. Trotzdem hat der Wind sie jedesmal bekommen, und schließlich hat er mir auch meine Mutter genommen. In jedem Sturm höre ich ihre Stimmen, aber meistens ist es meine Mutter, deren Stimme zu mir spricht. Sie ruft meinen Namen und erinnert mich daran, welche Schrecken eine Frau im Ehebett erwarten.«
Wolfe wollte Jessica trösten, doch er wußte nicht genau, ob er sie anfassen sollte. Um keinen Preis wollte er ihr angst machen. Endlich hatte er begriffen, warum sie sich so vor der Berührung eines Mannes fürchtete.
Ein letztes, grausames Zittern erfaßte Jessicas Körper. Als es vorüber war, schaute sie Wolfe zum ersten Mal bewußt an, seitdem die Erinnerung sie überwältigt hatte. Außer seinem Umriß im goldenen Kerzenschein konnte sie kaum etwas von ihm erkennen. Zögernd berührten ihre Hände sein Gesicht, als wollte sie sich versichern, daß er auch wirklich hier war.
»Du bist so warm«, hauchte sie.
Vorsichtig streichelte sie Wolfes Wangen. Sie spürte die Wärme, die von seiner Haut ausging und an der sie sich wärmen konnte wie an einem offenen Feuer. Erst als Wolfe merkte, wie sehr sie sich nach seiner Körperwärme sehnte, wurde ihm klar, wie kalt ihr die ganze Zeit gewesen sein mußte. Er wollte etwas sagen, fand aber nicht die richtigen Worte, um dem wilden Durcheinander von Gefühlen in seinem Inneren Ausdruck zu verleihen.
»Ich wollte mich eigentlich nicht gegen dich wehren«, flüsterte sie, wobei sie sich Mühe geben mußte, damit ihre Stimme nicht versagte. “Nicht gegen meinen liebsten Lord Wolfe.« Ihre Arme legten sich um Wolfes Hals, während sie sich an seine Brust schmiegte. »Ich kann nur hoffen, daß du mich jetzt nicht haßt. Du bist der einzige Mensch, dem ich jemals vertraut habe.«
Wolfe spürte plötzlich, wie ihre heißen Tränen an seinem Hals hinunterliefen. Auch in seinen Augen stiegen Tränen auf. Er murmelte ein paar beschwichtigende Worte und berührte ihre Wange mit seiner zitternden Hand.
»Ich hasse dich doch nicht, Jessi«, sagte er mit heiserer Stimme.
Sie drehte sich um und drückte ihm einen Kuß auf die offene Handfläche.
»Danke«, flüsterte sie.
»Dreh jetzt bloß den Spieß nicht um«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Eigentlich bin ich derjenige, der dich um Verzeihung bitten muß. Ich dachte, du bist einfach nur verzogen und starrsinnig. Ich wußte doch nicht, daß es für dich um Leben und Tod geht.«
Wolfe fuhr mit seinen Lippen über ihre Wimpern und Augenbrauen und wischte so die Tränen fort. »Weine doch nicht, mein Elfchen. Hör auf zu weinen. Das bricht mir das Herz. Hör doch auf. Ich werde auch niemals wieder so grausam zu dir sein.«
»Es... es tut mir leid. Ich weiß ja, daß du Tränen nicht... nicht ausstehen kannst, aber...«
Sachte legte Wolfe seinen Daumen auf Jessicas Lippen und brachte sie zum Schweigen.
»Aber... aber du hast doch gesagt...«
Sein Daumen drückte noch einmal gegen ihre Lippen. »Still, Kleines. Als ich das gesagt habe, war ich außer mir vor Wut. Ich war fest davon überzeugt, daß du es nicht ertragen kannst, wenn ich dich berühre.«
»Niemals«, sagte Jessica sofort und drückte Wolfe noch ein wenig fester an
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