Im Strudel der Gefuehle
Wolfe nachgibt. Denn wenn er es nicht kann, wird keiner von uns nachgeben.«
8
Verunsichert stand Jessica vor einer der zahlreichen Ladentheken. Sie war es gewöhnt, daß man Stoffballen und Schneiderinnen zu Lord Stewart nach Hause kommen ließ; wenn sie die neueste Mode wollte, ging sie auch manchmal persönlich zu einer Schneiderin. Ihre Kleider von der Stange zu kaufen, fand Jessica allerdings ausgesprochen interessant. Es war weniger kompliziert und sparte Zeit, doch gleichzeitig löste es eine gewisse Ratlosigkeit in ihr aus, weil sie nicht genau wußte, wie sie sich dabei anstellen sollte.
»Mrs. Lonetree? Sind Sie das?«
Die tiefe, sanfte Stimme verriet Jessica, schon bevor sie sich umdrehte, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre Augen funkelten vor Freude, als sie dem großen blonden Mann gegenüberstand, der vor ihr den Hut gezogen hatte und sie freundlich anlächelte.
»Rafe! Was für eine wundervolle Überraschung! Was machen Sie hier in Canyon City? Und wie geht es Ihrem Arm?«
Er bewegte vorsichtig die rechte Schulter. »Sie ist ein bißchen steif und juckt wie verrückt, aber davon abgesehen geht es mir gut. So schnell habe ich mich noch nie von einer Verletzung erholt. Das muß an Ihren Händen und dem eleganten Verband aus echter Seide liegen.«
»Und der Seife.«
»Und der Seife«, stimmte ihr Rafe augenzwinkernd zu.
»Was machen Sie hier in Canyon City?« fragte Jessica, ohne lange zu überlegen, was sie sagte. Dann fiel es ihr wieder ein. »Oje, es tut mir leid. Das war wirklich unhöflich von mir. Das ist wohl das einzige, was mir Betsy nicht über die Vereinigten Staaten erzählt hat.«
Rafe zog seine sonnengebleichten Augenbrauen in die Höhe. »Betsy?«
»Meine amerikanische Zofe. Jedenfalls war sie das, bis wir den Mississippi überquert haben. Sie hat mir viele eurer Sitten und Gebräuche beigebracht, aber die wichtigste Regel für das Leben hier draußen im Westen hat sie wohl ausgelassen.«
»Vielleicht erklären Sie mir besser, wovon Sie reden. Ich bin nämlich selbst noch nicht lange hier im Westen.«
Jessica stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ah, gut. Dann habe ich Sie ja nicht beleidigt, als ich gefragt habe, was Sie hier machen. Wolfe hat sich in dieser Hinsicht ziemlich klar ausgedrückt. Man darf einen Mann hier im Westen nie nach seinem Vor- und
Nachnamen fragen, nach seinem Beruf oder danach, woher er kommt und wohin er geht.«
»Das ist in Australien nicht viel anders«, sagte Rafe lächelnd, »und in vielen Teilen Südamerikas.«
»England ist da ganz anders; auf bestimmte Leute trifft das natürlich auch dort nicht zu.«
»Banditen?« fragte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Oje, ich habe Sie also doch beleidigt.«
Rafe lachte herzlich und unbekümmert. »Nein, meine Liebe, aber es macht wirklich Spaß, Sie ein bißchen an der Nase herumzuführen.«
Hätte ein anderer Mann sich über sie lustig gemacht, hätte sich Jessica sofort mit unterkühlter Freundlichkeit abgewandt, wie Lady Victoria es ihr beigebracht hatte. In Rafes Fall war das unmöglich und außerdem vollkommen überflüssig. In seinen Augen lag ein Ausdruck der Bewunderung, ohne daß er dabei aufdringlich gewirkt hätte.
»Es macht mir nichts aus, darüber zu reden, weshalb ich hier bin«, sagte er. »Ich warte darauf, daß man die Paßstraße wieder für den Verkehr freigibt. Ich bin hier kurz vor dem letzten Schneesturm angekommen, als man den Paß gerade geschlossen hat.«
»Dann hatten Sie ja bestimmt schon Gelegenheit, sich die Stadt anzusehen. Wolfe hat gesagt, daß wir nicht lange bleiben werden.«
»Ihr Mann weiß, wovon er spricht. Zu viele Vagabunden treiben sich hier herum; sie sitzen in den Spielcasinos und warten darauf, daß die Pässe wieder freigegeben werden.«
»Wenn Wolfe recht behält, brauchen Sie nicht mehr lange zu warten.«
»Man hat mir erzählt, Wolfe Lonetree kennt die Berge von hier bis zu den San-Juan-Bergen wie seine Westentasche«, sagte Rafe.
»Das würde mich nicht überraschen. Wolfe hatte schon immer etwas für die Wildnis übrig. Soweit ich gehört habe, sind die Berge da draußen unwegsam und verlassen wie kaum eine andere Gegend auf dieser Erde.«
Einen Moment lang schaute Rafe durch die Ladenfenster nach draußen. Sein Blick schweifte in unbestimmte Ferne und verlor sich in einer Traumlandschaft. Nach einer Weile kehrten seine grauen Augen zurück und richteten sich wieder auf das zierliche Mädchen neben ihm. Überrascht stellte er fest,
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