Im Sturm erobert
»Einige meiner Kunden benutzen Dr. Cox’ Tonikum. Ich glaube, Euer Onkel hat tatsächlich vor seiner letzten Sitzung etwas davon getrunken, aber das war durchaus nichts Ungewöhnliches. Er trank immer ein Glas seines speziellen Elixiers, bevor ich die Peitsche anwendete. Es tat ihm ungeheuer gut.«
Beatrice ließ nicht locker. Leo konnte ihre Entschlossenheit nur bewundern. Das Gespräch mußte selbst nach ihren ungewöhnlichen Maßstäben höchst eigenartig sein. Sie war schließlich als Pfarrerstochter aufgewachsen.
»Hat mein Onkel beim letzten Mal erwähnt, daß das Tonikum ungewöhnlich schmeckte?« fragte Beatrice.
»Nein«, sagte Madame Tugend. »Ich glaube, er fand es noch kräftigender als gewöhnlich.«
»Hm.« Beatrice zögerte. »Madame Tugend, ich werde offen sein. Wir versuchen, einige Gegenstände zu finden, die aus dem Besitz meines Onkels verschwunden sind.«
Zum ersten Mal flackerten Madame Tugends Augen alarmiert. »Hört, ich habe Glassonbys Kleidung und persönliche Gegenstände mit seiner Leiche weggeschickt. Ich nahm an, daß alle Gegenstände seiner Familie zurückgegeben wurden. Wenn seine diamantene Krawattennadel oder sonst etwas fehlt, könnt Ihr mir nicht die Schuld geben.«
»Ich bezichtige Euch nicht des Diebstahls«, versicherte ihr Beatrice streng.
»Das hoffe ich doch sehr.« Madame Tugend beruhigte sich wieder, sah aber immer noch mißtrauisch drein.
»Sagt mir, seid Ihr mit Dr. Cox bekannt?«
»Dem Kräutermann, der Glassonby sein Spezialtonikum verkauft hat?« Madame Tugend schüttelte den Kopf. »Nein, der Mann ist mir nie begegnet. Er und ich hätten zweifellos viel gemeinsam, nachdem wir dieselben Krankheiten bei Gentlemen behandeln. Aber bis jetzt ist es uns noch nicht gelungen, einander vorgestellt zu werden.«
»Ihr habt seine Adresse nicht?«
»Nein.«
»Ich danke Euch«, sagte Beatrice. »Ihr habt uns sehr geholfen. Ich weiß es zu schätzen, daß Ihr Eure Zeit geopfert habt.«
Madame Tugend kniff die Augen zusammen. »Ich habe da selbst eine Frage, Mrs. Poole.«
»Ja.« »Warum seid Ihr so neugierig, wie Euer Onkel gestorben ist? Wieso vermutet Ihr Gift?«
»Wie ich schon sagte, ich vermute, daß, etwa zum Zeitpunkt seines Todes, meinem Onkel einige Wertgegenstände entwendet wurden. Wir versuchen sie zurückzubekommen.«
»Ihr glaubt, daß er möglicherweise wegen dieser Wertgegenstände ermordet wurde?«
»Es war eine Möglichkeit, die wir in Betracht gezogen haben.« Beatrice seufzte. »Aber nach dem, was Ihr mir erzählt habt, scheint es jetzt doch unwahrscheinlich.«
»Ich kann Euch versichern, daß es nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch unmöglich ist. Glaubt mir, ich hätte es bemerkt, wenn jemand in meiner Gegenwart ermordet worden wäre.« Madame Tugend griff nach ihrem Schleier, um ihn herunterzuziehen. »Nun, wenn das alles ist, muß ich mich auf den Weg machen. Wenn Ihr mich entschuldigt, Mrs. Poole?«
»Ja, natürlich.« Beatrice warf einen Blick auf das Buch. »Wie ich sehe, lest Ihr Das Schloß der Schatten.«
»O ja, ich lese alle Bücher von Mrs. York. Sie ist amüsant naiv, was das Thema Männer betrifft, aber ihre Szenen in Grüften, die von Geistern heimgesucht werden, und Gespenstern und ähnlichem sind wirklich aufregend. Außerdem finde ich, daß ihre weiblichen Charaktere eine angenehme Abwechslung darstellen zu den üblichen weinerlichen, ständig in Ohnmacht fallenden Heldinnen, die man in so vielen Romanen findet.«
Beatrice blinzelte. »Auch ich lese Mrs. Yorks Romane. Ich finde, das sie nicht naiv ist, was das Thema Männer angeht.«
Leo warf einen Blick auf sie und hätte fast gestöhnt, als er sah, wie herausfordernd ihre Augen blitzten. Das war, bitte, weder Zeit noch Ort, noch die richtige Gesellschaft, um über die literarischen Vorzüge von Amelia Yorks Romanen zu diskutieren.
»Ich fürchte, Mrs. York hat ein paar äußerst fehlgeleitete Vorstellungen, was Männer anbelangt«, murmelte Madame Tugend.
»Und was für fehlgeleitete Vorstellungen wären das?« fragte Beatrice.
»Sie scheint zu glauben, daß tatsächlich ein paar Helden draußen frei herumlaufen.« Madame Tugend ging zwischen der Reihe von Säulen hindurch. »Ich dagegen habe vor langer Zeit gelernt, daß es keine gibt.«
Beatrice öffnete den Mund und klappte ihn rasch wieder zu. »Ich verstehe«, sagte sie unerwartet sanft. »Würde es Euch etwas ausmachen, noch eine letzte persönliche Frage zu beantworten?«
»Und die wäre?«
»Habt
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