Im Tal der bittersüßen Träume
Geh nicht hinaus! Bitte … bitte!«
Und plötzlich begann sie zu weinen, packte seinen Kopf und küßte ihn, immer und immer wieder. Dr. Högli stand wie erstarrt. Der vulkanische Ausbruch ihrer Liebe überrumpelte ihn völlig, vor allem in dieser kritischen Situation. In den langen Abenden, die er allein in seinem Zimmer gesessen hatte, während Evita drüben im Pfarrhaus wie in einer Burg lebte, hatte er verzaubernde Gedankenspiele durchgespielt, von denen er selbst sagte, sie seien wohl das Blödeste, was ein Mann sich ausdenken konnte. Aber es war herrlich, sich vorzustellen, daß eine Frau wie Evita Lagarto sich für einen kleinen Armenarzt im dreckigsten Dorf der Welt interessierte, auf all ihren Reichtum verzichtete und bei ihm blieb in der glühenden, wasserlosen Hölle von Santa Magdalena. Evita Högli, er hatte diesen Namen ein paarmal auf ein Blatt Papier geschrieben, dann den Kopf geschüttelt und den Zettel wieder zerrissen. Welch ein kindisches Benehmen! Die Sonne trocknet wirklich das Gehirn aus! Ein leerer Benzintank hatte Evita mit ihm bekannt werden lassen, ein dummer Zufall, den man nicht einmal Schicksal nennen konnte. Hätte das Benzin bis zu Paddys Hazienda gereicht, wäre er nie mit Evita in Berührung gekommen. Sie hätte ihren Brief abgegeben, einen Tag als Paddys Gast am Swimming-pool gelegen und Braten vom offenen Feuer gegessen, ganz zünftig und voll Romantik, eine kleine Combo aus Mestizen und Indios hätte ihr mexikanische Lieder und Tänze vorgespielt, Paddy wäre der charmanteste Gastgeber gewesen, so wie Evita immer nur charmanten Männern begegnet war. Und dann hätte Paddy sie wieder aus dem Tal begleitet zur großen Autopista nach der Pazifikküste, wo die Luxushotels und die Luxusmänner auf Evita Lagarto warteten.
Was ist da ein kleiner Dr. Högli aus St. Gallen? Der ›Chef‹ des ›Hospitals Henri Dunant‹! Wie gewaltig das klingt. Der Chef! Chef über sich selbst, einen Krankenpfleger, vier Hilfskräfte und eine nur notdürftig ausgebildete indianische Krankenschwester. Drei Steinbaracken mit fünfundzwanzig Betten, einem kleinen OP, einem noch kleineren Labor, zwei Behandlungszimmern, einer Ambulanz – diesem trostlosen Saal mit vier Tischen, durch den das ganze Elend dieser Welt zog, die Armut einer rechtlosen Menschenklasse. Tuberkulose, Anämie, Leberschäden durch heimlich selbst gebrannten Kakteenschnaps, Dystrophie, Vitaminmangelerkrankungen, Ekzeme, Knochenmißbildungen … die ganze Skala der Armenkrankheiten. Dazu die vielen Unfälle, gewollt oder ungewollt, das konnte man nie sagen, die meisten sicherlich mit Absicht herbeigeführt, um eine Woche oder gar zwei im Hospital liegen zu dürfen und vor den Antreibern des Señor Paddy sicher zu sein.
Evita Högli … welch ein Wahnsinn!
Und jetzt hing sie an ihm, küßte ihn, weinte und bettelte und sagte immer wieder: »Bleib, Riccardo! Bleib! Ich habe solche Angst um dich! Ich liebe dich … Begreifst du das denn nicht? Ich liebe dich … Geh nicht hinaus, Riccardo, bitte, bitte!«
Dr. Högli umfaßte ihren Kopf und zog ihn langsam von sich fort. Ihre weit aufgerissenen Augen bettelten noch eindringlicher als ihre Lippen.
»Evita –«, sagte er heiser vor Erregung. »Wir – wir sollten später darüber sprechen. Erst müssen wir uns um Juan-Christo kümmern …«
»Kannst du nicht ein paar Augenblicke lang vergessen, daß du Arzt bist?« schrie sie.
»Doch. Aber nicht jetzt!« Er drehte sich um. Juan-Christo erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit. Mit dem Erwachen waren aber die Schmerzen wieder da. Er stöhnte laut, sein Körper begann wild zu zucken. Dann schlug er die Augen auf und starrte Dr. Högli an. »Padre Riccardo –«, stammelte er.
Dr. Högli beugte sich über ihn. »Es ist alles halb so schlimm, Juan. Man kann alles wieder reparieren. Lieg jetzt ganz still und sag mir genau, wo's dir besonders wehtut. Ich glaube, du hast großes Glück gehabt.«
Juan-Christos Atem ging rasselnd. »Sie wollten wissen, wo Matri ist. Sie haben die ganze Ambulanz zerschlagen. Alles, Doktor, alles. Die Tische, die Stühle, die Schränke, die Instrumente …«
»Ich hole mir alles von Paddy wieder, verlaß dich drauf, Juan.« Dr. Höglis Stimme klang ruhig, aber diese Ruhe verriet äußerste Entschlossenheit. »Er wird mir ein völlig neues Hospital einrichten.«
»Mein Vater wird es dir schenken«, sagte Evita und netzte Juans Gesicht wieder mit dem weingetränkten Lappen. Dr. Högli tastete den zerschlagenen
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