Im Tal der Giganten
ihre
sonstige Gewohnheit ließ sich Serena diese Vertrautheit
nicht nur gefallen, sondern drückte sich sogar noch fester
an seine Schulter. Es war das erste Mal, daß Mike Serena
so berührte, und er war nicht nur überrascht über seinen
eigenen Mut, er begriff auch plötzlich, wie einsam die
Atlanterin trotz allem war. Serena lebte mit ihnen an Bord
der NAUTILUS, sie aß, redete und lachte wie sie, übernahm ganz selbstverständlich einen Teil der Aufgaben
-
aber sie war nicht wie sie.
Sie war eine echte Prinzessin, der letzte Sproß einer Familie, die vor Tausenden von Jahren das versunkene
Atlantis beherrscht hatte, und ihm war eigentlich nie so
sehr wie in diesem Moment zu Bewußtsein gekommen,
wie allein Serena war. Sie alle hatten auf die eine oder
andere Weise ihre Eltern verloren, sei es, daß sie
gestorben waren, sei es, daß sie sie - wie in Juans Fall einfach in das teure Nobelinternat in England abgeschoben
hatten, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wußten und
sie im Grunde nicht haben wollten, aber Serenas Verlust
war ungleich größer. Sie hatte nicht nur ihre Familie, nicht
nur all ihre Freunde und Bekannten verloren, sondern ihre
gesamte Welt. Das sagenumwobene Atlantis, in dem sie
geboren und aufgewachsen war, existierte nicht mehr, und
nach ihrer Begegnung mit dem Alten, jenem unsagbar
fremden, mächtigen Geschöpf, auf das sie in der Stadt auf
dem Meeresboden getroffen waren, hatte sie auch noch
den Rest ihres Erbes verloren, ihre magischen Kräfte, die
das einzige gewesen waren, was ihre Eltern ihr auf ihrer
Reise durch die Zeit hatten mitgeben können. Vielleicht,
dachte Mike, war Serena der einsamste Mensch, den es
auf diesem Planeten gab. Nur um sie zu trösten, sagte er
nach einer Weile leise: »Ich glaube nicht, daß sie das
denken, Serena. Du darfst nicht alles für bare Münze
nehmen, was Ben sagt. Er hat Angst, das ist alles. Wir
haben alle Angst, aber er ist einfach zu stolz, es
zuzugeben. Er meint es nicht böse. « Serena löste sich mit
sanfter Gewalt aus seiner Umarmung. Eine einzelne Träne
lief über ihr Gesicht. Sie wischte sie hastig weg. Noch ehe
Mike etwas sagen konnte, beugte sie sich vor und gab ihm
einen Kuß auf die Wange. In der nächsten Sekunde sprang
sie auf und lief davon.
Mike sah ihr völlig verwirrt hinterher. Serena ließ normalerweise keine Gelegenheit verstreichen, um jedem zu
erkären, daß sie weder Hilfe noch irgendeine Art von
Trost benötigte. Aber vielleicht stimmte das nicht so ganz.
Und vielleicht, dachte Mike, bin ich Serena doch nicht
ganz so gleichgültig, wie sie mir immer glauben machen
will. Ja, möglicherweise erwiderte sie die Gefühle, die
Mike insgeheim für sie hegte, sogar ein wenig.
Durch diese Vorstellung mutiger geworden, stand Mike
auf, und er wäre Serena auch gefolgt, wäre er nicht in
diesem Moment Bens spöttischem Blick begegnet. »Was
ist los?« fragte er. »Gibt es irgendeinen Grund, so blöde zu
grinsen?«
»Tu ich doch gar nicht«, behauptete Ben und grinste
beinah wie ein Honigkuchenpferd. »Ich freue mich nur,
das zarte Pflänzchen der ersten Liebe erblühen zu sehen. «
Mike ballte die Faust und schüttelte sie unmittelbar vor
Bens Gesicht. »Ich werde dir gleich eins auf die Nase
hauen und mich daran erfreuen, wie sie erblüht«,
versprach er. »Wetten, daß sie hübsch dick und rot wird,
wenn ich nur lange genug darauf einschlage?« Ben grinste
nur noch breiter, wich aber trotzdem vorsichtshalber ein
kleines Stück vor Mike zurück. Doch bevor er eine weitere
spitze Bemerkung loswerden konnte, erscholl vom
Waldrand ein gellender Schrei! Mike fuhr herum.
Blitzschnell blickte er alle anderen an. Ben, Serena, Juan,
Trautman, Singh... alle waren da. Bis auf Chris. Und erst
jetzt, im nachhinein, fiel ihm auf, daß er den Zehnjährigen
schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte,
genaugenommen seit sie am Fluß angekommen waren.
In diesem Moment erscholl der Schrei ein zweites Mal,
und diesmal riß er Mike endgültig aus seiner Erstarrung.
Zugleich mit Singh und Trautman rannte er los, die
anderen folgten ihnen. Chris war in Gefahr, und Mike
mußte ihm helfen. Rücksichtslos brach er durch dorniges
Gestrüpp und Unterholz, flankte mit einem gewaltigen
Satz über einen niedergestürzten Baum hinweg - und wäre
um ein Haar gegen Chris geprallt. Der Junge stand
unmittelbar vor ihm, leichenblaß und am ganzen Leibe
zitternd, aber trotzdem wie gelähmt. Sein Blick war wie
hypnotisiert auf das Gebüsch
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