Im Tal der Sehnsucht
Wie bei einem Déjà-vu sah er wieder Serenas Unfall vor sich. Unwillkürlich schloss er die Augen und öffnete sie erst wieder, als er Leonas Schrei hörte.
„Tut mir leid, bester Boyd, ich habe dich geschlagen.“ Sie riss ihren Hut vom Kopf und warf ihn hoch in die Luft, um ihren Sieg zu feiern. „Du bist mir doch nicht etwa böse?“
Boyd stieg ab und kam mit zornigem Gesicht auf sie zu. „Warum gehst du so ein Risiko ein?“, fragte er scharf und zug sie aus dem Sattel.
„Das würde ich nie tun“, verteidigte sie sich. „Risiko? Sei nicht albern.“ Das war der Boyd, vor dem sie sich nicht zu fürchten brauchte. Er sorgte sich um sie und würde ihr niemals wehtun. „Du brauchst dich nicht aufzuregen. Ich bin nie leichtsinnig.“
Seine Augen funkelten wie dunkle Saphire. „Das war deine Mutter auch nicht.“
Plötzlich war auch in ihr die Vergangenheit wieder lebendig. Sie erinnerte sich, welches Entsetzen Serenas tragischer Tod ausgelöst hatte. Ihr Vater war wie versteinert gewesen, Alexa hatte Ströme von Tränen vergossen, und Geraldine hatte sie tröstend in die Arme genommen. Mit dem Leben, das sie bis dahin geführt hatten, war es schlagartig vorbei gewesen.
„Es war so ein schöner Ritt.“ Leona wollte keinen Streit aufkommen lassen. „Verdirb ihn uns nicht nachträglich.“
„Verderben?“ Boyd merkte, dass er nahe dran war, die Beherrschung zu verlieren, was sonst niemals geschah. „Warum hast du diese blöde Mauer übersprungen? Du hättest dir das Genick brechen können!“
Diesen Vorwurf hatte sie nicht verdient. „Sie war niedrig“, rechtfertigte sie sich hitzig. „Ich habe schon höhere Hindernisse übersprungen.“
„Nicht mit einem so kleinen Pferd wie Fatima.“
Leona sah ihn verständnislos an. „Fatima mag nicht das größte Pferd im Stall sein“, gab sie zu, „aber ich liebe sie, und sie hat einen sicheren Gang. Wer zum Teufel bist du, dass du mir Vorschriften machst? Wie kommst du dazu, über mich zu bestimmen? Kein Wunder, dass ich dich nicht mag und seit Jahren mit dir streite. Kein Wunder …“
Sie hatte sich in Rage geredet und kaum noch auf Boyd geachtet. Umso überraschender kam seine Reaktion. Er riss sie in einer wütenden Gefühlswallung an sich, legte einen Arm um sie und drückte ihr Kinn unsanft nach oben. „Hör endlich auf, von deiner Abneigung und deiner Furcht zu faseln!“, donnerte er. „Du machst mich krank damit.“
Sie schrie leise auf. „Ich habe mich schon gefragt, wann du es endlich zugeben würdest“, keuchte sie. Boyd war ihr so nah, dass sie kaum noch klar denken konnte. Sie wusste nur noch eines – sie war ihm hoffnungslos ausgeliefert „Lass mich gefälligst los, du brutaler Kerl!“
Noch während sie das sagte, erschrak Leona vor sich selbst. Boyd ein brutaler Kerl? Warum konnte sie nicht herausschreien: Ich liebe dich! Warum musste sie das Geständnis ewig für sich behalten? Was für eine unerträgliche Qual!
„Sei froh, dass ich nicht brutal bin“, erwiderte er lachend, ohne dass sich sein Zorn dadurch milderte. „Ich lasse dich erst los, wenn ich dir eine Lektion erteilt habe … du brauchst dich gar nicht so zu wehren. Ich bin viel zu nachsichtig mit dir gewesen und habe deine Sticheleien viel zu lange geduldet. Wann gibst du endlich Ruhe?“
Wie sollte sie in Sekunden die Wand einreißen, die sie so mühsam zwischen ihnen beiden errichtet hatte? „Niemals!“, schrie sie außer sich, ohne zu erkennen, wie aufreizend herausfordernd sie wirkte. Damit war ihr Schicksal besiegelt.
Boyd drückte sie noch fester an sich und küsste ihre zarten, fein geschwungenen Lippen. In diesem Moment kam er sich tatsächlich wie ein Urmensch vor. Er hätte Leona auf die Arme nehmen und in seine Höhle tragen können. Manchmal machte sie ihn einfach verrückt.
Die Wirkung auf Leona war genauso heftig. Hatte sie nicht im Stillen geahnt, dass es so kommen würde? Sie war hier mit dem Mann, den sie liebte – und zwischendurch immer wieder hasste, weil er sie unweigerlich aus der Fassung brachte.
Sie konnte sich nicht rühren, war wie gebannt von der Nähe des Mannes, den sie heimlich liebte. Noch nie war sie in einen solchen Sinnestaumel geraten. Die Erde schien unter ihr zu beben.
Boyd vergrub beide Hände in ihren rotblonden Locken. „Ich habe es so satt, dass du gegen mich kämpfst“, stöhnte er.
Leonas Beine drohten nachzugeben. Hätte er sie nicht so unbarmherzig festgehalten, wäre sie wahrscheinlich vor ihm zu Boden
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