Im Tal der Sehnsucht
die Konsole, bitte.“ Jinty zeigte auf das Goldtischchen an der Rückwand der Halle. Sie war schon auf dem Weg zu Ruperts Arbeitszimmer und blieb noch einmal stehen. „Ich mache mir auch Sorgen wegen Ruperts Gesundheit. Er trinkt viel mehr, als ihm guttut, und die mörderischen Zigarren kann ich ihm auch nicht abgewöhnen.“
„Die hat er von seinem Vater übernommen, und der wiederum von seinem Vater.“ Boyd betrachtete Leonas blasses Gesicht. „Komm“, wiederholte er leise. „Lass uns das Gepäck holen. Ich kann es nicht erwarten, von hier wegzukommen.“
9. KAPITEL
„Wohin fahren wir?“ Innerlich furchtbar aufgewühlt, war Leona während der Autofahrt tief in Gedanken versunken und nahm ihre Umgebung erst wieder wahr, als sie den Stadtrand von Sydney erreichten.
Boyd konzentrierte sich auf die Straße. Er war ebenfalls auffallend still gewesen und hatte die Strecke in Rekordzeit zurückgelegt.
„Zu meiner Wohnung“, sagte er jetzt, und diesmal widersprach Leona nicht.
Fünfzehn Minuten später erreichten sie die Tiefgarage, die zu dem imposanten alten Apartmentgebäude gehörte, das erst vor wenigen Jahren aufwendig renoviert worden war. Boyd bewohnte das Penthouse. Ursprünglich gab es dort zwei Wohnungen, die man zusammengelegt und so eine geräumige Luxussuite geschaffen hatte. Leona war häufig als Gast von Boyds Dinnerpartys dort gewesen, aber noch nie mit ihm allein.
Schweigend fuhren sie im Lift nach oben. Leona merkte kaum, was sie tat. Sie war noch wie betäubt von Boyds und Ruperts Enthüllungen, die ihr Fassungsvermögen fast überstiegen. Sie hatte das Gefühl, Teil eines Romans zu sein, in dem es um Familiengeheimnisse, Geld, Sex und Menschen mit unerfüllten Sehnsüchten ging. Oder spiegelten Romane wirklich das wahre Leben wider? Dass Alexas Ehe unglücklich gewesen war, hatte sie immer gewusst, aber wie hätte sie etwas von Ruperts leidenschaftlicher Liebe zu ihrer Mutter ahnen können?
Boyd hatte davon gewusst und nie darüber gesprochen. Bis heute. Kein Wunder, dass er sich ihr so tief verbunden fühlte!
Sie betraten die Wohnung, und Leona schwieg weiter. Apathisch blieb sie im Flur einfach stehen.
„Du hast einen Schock, nicht wahr?“ Boyd sah ihr forschend ins Gesicht.
„Du weißt, dass es so ist.“ Sie wich seinem Blick aus und starrte wie blind auf das große Landschaftsbild, das über einem modernen Konsoltisch hing und den wilden australischen Busch darstellte.
„Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf.“ Behutsam berührte er ihren Arm. „Möchtest du vielleicht etwas essen? Wir könnten uns hier etwas machen oder ausgehen. Ich kenne ein gutes italienisches Restaurant ganz in der Nähe.“
Er nahm sie bei der Hand und zog Leona sanft ins Wohnzimmer. Die elegante Kassettendecke und die zeitgenössischen Designermöbel erweckten den Eindruck eigenwilliger Individualität: modern, betont männlich, aber nicht abweisend für Frauen. Boyd hatte das Penthouse aus historischem Interesse gekauft. Das alte Haus gehörte zu den wenigen noch erhaltenen hochherrschaftlichen Gebäuden in Sydney, von denen man einen prachtvollen Blick über die Stadt hatte. Natürlich tat auch die Höhe der Räume ihre Wirkung, ebenso wie die klassischen architektonischen Elemente, unter denen vor allem die kannelierten Säulen auffielen, die den offenen Wohn- und Essbereich optisch voneinander trennten. Architekten und Dekorateure hatten rund um die Uhr gearbeitet, bevor Boyd eingezogen war.
„Nun?“, fragte er, während er sie zu einem der weich gepolsterten Ledersofas führte.
„Ich bin nicht hungrig.“
„Trotzdem solltest du etwas essen. Mein Vater ist ein schwer zu verstehender, bisweilen bösartiger Mann, aber du darfst dich von ihm nicht einschüchtern lassen. Ich jedenfalls sterbe vor Hunger. Vor einem Polospiel – die Stunden, die seitdem vergangen sind, kommen mir wie Jahre vor – esse ich meist nur wenig, und zum Tee gab es auch nichts, weil so viele Leute mit mir sprechen wollten.“
Leona drückte ein gestreiftes Seidenkissen gegen ihre Brust, als wollte sie sich damit schützen. „Du hättest es mir sagen müssen.“
Boyd setzte sich neben sie. Auch in dem einfachen weißen T-Shirt und den dunkelblauen Jeans sah er umwerfend gut aus. „Was denn?“, fragte er. „Dass mein Vater für eine gewisse Zeit in deine Mutter verliebt war, die keine Ahnung davon hatte? Was wäre dadurch gewonnen gewesen?“
Leona drehte sich ruckartig zu ihm um. Tränen traten in ihre
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