Im Tal der Sehnsucht
stand.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Boyd gefährlich ruhig.
Rupert hob den Kopf und lachte unheilvoll. „Es wird noch lange dauern, bis du mir die Zügel aus der Hand nimmst, mein Sohn.“
Boyd richtete sich stolz auf. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich das längst getan habe? Wie kannst du Leona und ihrer Familie derart drohen! Du bekommst es mit mir zu tun, wenn du ihnen auf irgendeine Weise schadest. Unser Entschluss hat dich aus der Fassung gebracht. Du hast uns ein Leben lang deinen Willen aufgezwungen, aber diesmal wirst du bei niemandem Rückhalt finden. Die Familie überlässt mir gern die Führung. Unsere Aktionäre sind ebenfalls zufrieden, und es gab eine Zeit, da warst du es auch. Alle sehen in Leona die schöne, begabte und kultivierte junge Frau. Du selbst hast sie immer überaus freundlich behandelt. Warum gibt es plötzlich ein Problem?“
„Es ist nicht gut, wenn ihr heiratet“, erklärte Rupert in seiner selbstherrlichen Art.
Boyd umschloss Leonas Hand fester. „Red nicht solchen Unsinn, Dad. Du weißt, wie lächerlich das ist. Es gibt keinen Grund – weder gesetzlich noch moralisch oder gesellschaftlich –, der unsere Heirat verbietet. Wir sind nicht mal Cousin und Cousine zweiten Grades. Du musst dir schon etwas anderes einfallen lassen.“
Leona konnte sich nicht länger zurückhalten. „Wenn du glaubst, dass es irgendein Hindernis gibt, solltest du es sagen!“, brach es aus ihr heraus. Sie hörte selbst die Furcht in ihrer Stimme. Ruperts Heftigkeit ließ sie schaudern.
Statt zu antworten, betrachtete Rupert das Bild von Serena, das seit ihrem Tod in seinem Arbeitszimmer an der Wand hing. Als das Schweigen unerträglich wurde, ging Boyd zum Angriff über.
„Und? Was wirst du jetzt aus dem Hut zaubern, Dad?“, fragte er voller Verachtung. „Dass Leona meine Halbschwester ist? Ich würde dir alles zutrauen. Du würdest ihre tote Mutter ebenso verleumden wie meine, die so viel von dir zu erleiden hatte. Doch das wird dir nichts nützen. Es gab keine Affäre zwischen dir und Serena, falls du das andeuten willst. Mein Gott, wie mich das anwidert!“
Leona hatte schlagartig allen Kampfgeist verloren. „Ich muss nicht ganz bei mir sein“, sagte sie stockend. „Das alles passiert nicht …“
„Setz dich wieder hin.“ Boyd legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte Leona sanft in den Sessel. „Du darfst dich nicht so aufregen. Dad spielt nur seine unfeinen Spiele mit uns. Er war in Serena verliebt … Mum wusste das. Jahre später erzählte sie mir von seiner Obsession, aber Serena war die Unschuld selbst.“ Er wandte sich an seinen Vater. „Sie ahnte nichts von deiner heimlichen Besessenheit, nicht wahr? Sie war eine junge Mutter und enge Freundin deiner Frau. Sie hätte ihren Mann, ihr Kind oder ihre Freundin niemals betrogen … nicht einmal, wenn sie von diesem Wahnsinn gewusst hätte.“
„Nein“, flüsterte Leona kaum hörbar. „Das hätte sie nicht getan.“ Sie war noch ein Kind gewesen, als ihre Mutter starb, doch die Erinnerung an sie lebte weiter in ihr – an ihre Lebhaftigkeit, ihren wunderbaren Sinn für Humor, ihre seltene Anmut, ihre Fähigkeit zu lieben und ihren festen Familiensinn. „Warst du darum all die Jahre so nett zu mir, Rupert? Weil ich dich an meine Mutter erinnere?“
„An die einzige Frau, die unerreichbar für ihn blieb.“ Boyd ließ nicht das geringste Verständnis für seinen Vater erkennen. Sein Gesicht drückte lediglich Abscheu aus. „Darum musst du auch für mich unerreichbar sein, Leona. Das ist so bei Männern wie Dad, die in ständigem Konkurrenzkampf mit ihren Söhnen leben. Er kann nicht verlieren, allein der Gedanke macht ihn verrückt. Du hast Mums Liebe ziemlich früh verloren, nicht wahr? Es hat eine Weile gedauert, aber dann durchschaute sie dich.“
„Halt den Mund, Boyd!“, knirschte Rupert.
„Stimmt das?“, fragte Leona tieftraurig. „Wolltest du wirklich verhindern, dass dein eigener Sohn glücklich wird?“
Rupert war nicht mehr in der Lage, Fragen zu beantworten. Sein Leben lang hatte er unter enormem seelischen Druck gestanden. Die meisten Menschen hielten es für ein großes Glück, aus einer superreichen Familie zu stammen, doch das war nur eine Illusion. Er hatte keine Wahl gehabt. Er war von seinem Vater dazu bestimmt worden, die Firma Blanchard zu übernehmen und genauso entschlossen weiterzuführen wie seine Vorfahren. Seine Schwestern hatten ganz nach ihren eigenen
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