Im Tal der Sehnsucht
genauso fühlen konnte oder wollte? Es war ein schreckliches, ein unlösbares Problem.
„Dass ich über Nacht bleibe, ist ausgeschlossen“, sagte sie beinahe schroff.
„Und wie soll es deiner Meinung nach weitergehen?“ In seiner Stimme schwang ein spöttischer Unterton mit. „Ich finde meinen Vorschlag sehr vernünftig. Du warst heute einer hässlichen Szene ausgesetzt. Dad kann sehr grausam sein.“
„Das ist wahr. Er hat eine starke Persönlichkeit, doch man spürt die Leere in ihm … oder anders ausgedrückt, die seelische Verkümmerung, die sich dahinter verbirgt. Jinty hat selbst zugegeben, dass keine gefühlsmäßige Bindung zwischen ihnen besteht. Bestimmt hat es nach unserer Abfahrt einen heftigen Streit gegeben.“
Boyd lachte trocken auf. „Jinty hat bestimmt schnell nachgegeben. Dass sie sich wegen Dads Gesundheit Sorgen macht, hat mich erstaunt. Sie hat früher nie darüber gesprochen.“
Sie standen an einer Kreuzung und warteten auf grünes Licht. „Hat Rupert sich denn nicht regelmäßig von Dr. Morse untersuchen lassen?“
Boyd sah sie von der Seite an. Ihre Haut hatte den Schimmer mattweißer Perlen, das windzerzauste Haar schmiegte sich wie eine leuchtende Aureole um ihr zartes Gesicht. Sie ahnte nicht einmal, wie schön sie war. Schönheit war ein natürlicher Teil von ihr, genauso wie das wohlklingende Timbre ihrer Stimme.
„Ich weiß, dass Dad seit Jahren Medikamente gegen Bluthochdruck nimmt“, sagte er, „aber er trinkt zu viel, was die Wirkung wahrscheinlich aufhebt.“ Die Ampel schaltete auf grün, und sie gingen weiter, Arm in Arm wie ein Ehepaar. „Dazu raucht er immer noch die starken Havannazigarren. Man kann sagen, was man will. Er hört auf niemanden.“
„Und wenn er einen Herzanfall bekäme?“, fragte Leona bedrückt. „Vielleicht solltest du auf deinen Plan verzichten … jedenfalls für den Moment. Lass ihm Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, soweit das möglich ist. Abgesehen davon ist für viele Männer eine Frau so gut wie die andere.“
Das war humorvoll gemeint, traf aber Boyds Geschmack überhaupt nicht. „Zu diesen Männern gehöre ich ganz sicher nicht“, erklärte er bestimmt. „Mein Plan gefällt mir. Und ich will auch nicht länger darüber diskutieren. Du musst nur einverstanden sein, die Rolle meiner Braut zu übernehmen. Für eine kluge Frau wie dich dürfte das nicht schwer sein. In einigen Monaten heiraten wir dann. Die Wahl des Datums überlasse ich dir. Was sagst du dazu?“
Eine plötzliche Windböe wehte ihr das Haar ins Gesicht, und sie machte ihren Arm frei, um es zurückzustreichen. „Boyd, ich … kann nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil … weil …“ Rotwein wirkte angenehm betäubend, aber er sensibilisierte auch die Sinne.
„Du weißt es nicht genau, wie?“
„Ich weiß nur, dass ein gefährlicher Weg vor uns liegt“, antwortete sie. „Dein Vater ist von Natur aus tyrannisch. Was ist, wenn du dich eines Tages auch in einen Tyrannen verwandelst?“
„Solange du bei mir bist, kann das nicht passieren.“ Boyd zog sie wieder an sich. „Du würdest mich immer rechtzeitig korrigieren. Und ganz nebenbei gefragt … kennst du einen Mann, den du lieber heiraten würdest?“
„Ich habe noch gar nicht ans Heiraten gedacht!“, schwindelte Leona. „Ich will Karriere machen, oder ist dir das entgangen?“
Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich weiß, was dir dein Beruf bedeutet, und du bist wirklich gut darin. Du sollst ihn auch nicht aufs Spiel setzen. Bea hat schon einige persönliche Assistentinnen vergrault, doch ihr beide kommt erstaunlich gut miteinander aus.“
Leona seufzte. „Das liegt wohl daran, dass ich an Ungeheuer gewöhnt bin.“
Diesmal kam das Apartment Leona noch größer vor. Sie ging umher und schaltete verschiedene Lampen ein, die auf schmalen Lichtschienen montiert waren. „Ein toller Effekt“, staunte sie. „Wir könnten irgendwo auf einem hohen Berg sein … weitab von der Welt.“
„Kommst du dir so vor?“ Boyd zog sein leichtes Jackett aus, das er über einem blauen Baumwollhemd mit offenem Kragen getragen hatte. Leona kannte keine Firma, die Damenblusen in diesem besonderen Blauton herstellte. Sie nahm sich vor, mit Bea darüber zu sprechen. „Setz dich doch hin.“
„Ich laufe lieber noch ein bisschen herum.“ Die Bewegung half ihr, ihre innere Unruhe zu bekämpfen. „Du hast gut mit den Architekten und Dekorateuren zusammengearbeitet. Die Einrichtung ist perfekt,
Weitere Kostenlose Bücher