Im Tal der Sehnsucht
Sie küsste ihren Bruder zärtlich auf die Wange, er war kaum größer als sie. „Du solltest dich mit dem begnügen, was du hast.“
Robbie erhielt regelmäßige finanzielle Zuwendungen von ihrem Vater, aber er konnte nicht damit wirtschaften und musste sich oft Geld von ihr borgen. Natürlich versprach er immer, es zurückzugeben. Manchmal tat er das, meistens allerdings nicht.
Leona begleitete ihn zur Wohnungstür. Die Familie hatte ihr das Apartment zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt – als Zeichen der Anerkennung für ihr tadelloses Benehmen, das dem Namen Blanchard zur Ehre gereichte. Von ihrem Wohnzimmer aus konnte man einen fantastischen Blick auf den Hafen von Sydney genießen. Sie selbst hätte sich eine so luxuriöse Wohnung niemals leisten können, trotz ihrer kürzlich erfolgten Beförderung zu Beatrice Caldwells persönlicher Assistentin, mit der eine erhebliche Gehaltserhöhung einherging. Beatrice war ein leuchtender Stern am Modehimmel und leitende Direktorin von Blanchard-Fashion.
„Sie verdienen die Beförderung, mein Kind“, hatte Beatrice gesagt. „Sie haben wie ich den richtigen Blick.“ Aus dem Mund der selbstherrlichen und selten zufriedenen Chefin war das ein hohes Lob.
„Du kommst also zu der Party, Robbie?“ Leona wollte unbedingt sichergehen. „Man erwartet eine Antwort von dir.“ Gutes Benehmen zählte bei den Blanchards zu den höchsten Tugenden.
„ Naturalmente !“ Es klang, als ahmte er seinen italienischen Vater nach. „Aber nur deinetwegen. Das kannst du mir glauben.“
„Mach keine unnötigen Schwierigkeiten.“ Sie umarmte ihn auf ihre schwesterliche Weise, in der etwas Beschützendes lag.
„Vielleicht wäre ich umgänglicher, wenn Carlo mich nicht verlassen hätte“, sagte Robbie. „Aber er konnte nicht schnell genug nach Italien zurückkehren, um wieder zu heiraten und noch mehr Kinder zu bekommen.“
„Hoffentlich ist er ihnen ein besserer Vater als dir.“
Ihre Stimme klang hart. War es ein Wunder, dass sie so starkes Mitgefühl mit ihm hatte? Sie wusste nur allzu gut, wie leer er sich innerlich fühlte. Delia schien nichts für ihren einzigen Sohn zu empfinden, so unglaublich das auch war. Vielleicht hätte er blond und blauäugig sein müssen wie sie selbst, doch mit dem dunklen Haar und den feurigen Augen erinnerte er sie immer nur an Carlo D’Angelo. Der hatte während all der Jahre keinen Versuch unternommen, Kontakt mit seinem ältesten Sohn aufzunehmen – geschweige denn, ihn einzuladen, damit er seine Halbgeschwister kennenlernen konnte.
„Er ist der eigentliche Verlierer“, versuchte Leona ihren Bruder zu trösten. „Du musst an dich selbst glauben … wie ich.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm und fühlte eine innere Spannung, die Robbie offenbar vor ihr verbergen wollte. „Ist alles in Ordnung? Du verschweigst mir doch nichts?“
„Alles in bester Ordnung.“ Er lachte kurz auf. „Dann sehen wir uns also am nächsten Wochenende auf Brooklands.“
Leona lächelte. „Vergiss deinen Tennisschläger nicht. Wir werden sie besiegen – wie immer!“
„Es macht Spaß, die anderen zu schlagen, nicht wahr?“
„Großen Spaß.“
Wenn doch alles andere genauso viel Spaß machen würde, dachte Robbie unglücklich, während er zum Lift trottete. Die Angst schnürte ihm mehr und mehr die Kehle zu. Leona war ein Schatz. Er liebte sie aufrichtig, wie keinen anderen Menschen auf der Welt, aber er hatte es nicht über sich gebracht, sie noch einmal um Geld zu bitten. Viel zu viel hatte er sich schon von ihr geliehen und noch lange nicht alles zurückgezahlt. Dabei brauchte er dringend mehr Geld. Die Leute, mit denen er sich eingelassen hatte, setzten ihn zunehmend unter Druck. Das waren Strolche, die sich ungeschoren in den höchsten Gesellschaftskreisen bewegten. Nicht auszudenken, was ihn erwartete, wenn er sie nicht zufriedenstellen oder zumindest hinhalten konnte.
Robbie hatte das beklemmende Gefühl, dass seine selbst gestellte Falle bald zuschnappen würde. Leona hatte recht. Er war im Begriff, sich durch seine Spielsucht – noch ein schlechtes Erbteil seines Vaters – zu ruinieren. Aber Blazeaway, Ruperts vielversprechendes zweijähriges Rennpferd, musste heute Nachmittag einfach gewinnen. Er würde die letzten Scheine, die er noch in der Tasche hatte, auf ihn setzen.
Mit dieser vermeintlichen Aussicht auf einen Gewinn verdrängte Robbie seine Sorgen und begann, heiter vor sich hin zu pfeifen, um bei Laune zu
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