Im Tal der Sehnsucht
bleiben.
2. KAPITEL
Am folgenden Samstag beschloss Leona, die übrigen Familienmitglieder vorausfahren zu lassen, bevor sie selbst nach Brooklands, dem berühmten Landsitz der Blanchards, aufbrach. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, das Haus und die prächtigen Gartenanlagen wiederzusehen. Andererseits versetzte sie die Aussicht auf eine Begegnung mit Boyd seelisch und körperlich in Unruhe.
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. In Wirklichkeit waren es nur gut vier Wochen, die er geschäftlich im Ausland verbracht hatte. Rupert war jetzt über sechzig und konnte es sich mit einem so brillanten Nachfolger leisten, mehr Zeit auf Brookland s zu verbringen. Das bedeutete für Boyd einen gewaltigen Machtzuwachs, jedoch auch mehr Verantwortung, was für ihn nicht leicht war.
Allerdings war er ein Mann, der mit der Macht umzugehen wusste. Die Rolle war ihm auf den Leib geschrieben. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten oder eine so verantwortungsvolle Aufgabe von sich weisen würde. Das war nicht seine Art. Mit dem von seinem Großvater geerbten Vermögen hätte er sich jederzeit selbstständig machen und sein Leben genießen können, aber der Wille und die Begabung zur Leitung eines solchen Geschäftsimperiums hatten sich schon früh bei ihm gezeigt. Zur großen Erleichterung der Familie lag sein ganzer Ehrgeiz darin, die Erfolgsgeschichte der Blanchards fortzusetzen.
Alles, was Boyd anpackt, verrät seine Begabung und Entschlusskraft, dachte Leona, während sie ihre Aufmerksamkeit weiter auf die Straße richtete. Er war mehr als Ruperts würdiger Nachfolger, er übertraf ihn noch bei Weitem. Dabei half ihm der Schliff, den er von seiner Mutter Alexa bekommen hatte. Gerade dreißig geworden, befand er sich auf dem Gipfel seiner Karriere und stellte alles, was vor ihm geleistet worden war, in den Schatten. Man liebte, schätzte und respektierte ihn, während sein Vater eher gefürchtet wurde.
Es wunderte Leona immer wieder, dass ausgerechnet der tyrannische Rupert eine so große Zuneigung zu ihr empfand. Bei der Beerdigung ihrer Mutter war er fast zusammengebrochen, während er die Beisetzung seiner eigenen Frau später mit unbewegter Miene verfolgt hatte. Auch die sonst so beherrschte Alexa, eine enge Freundin ihrer Mutter, war in Tränen aufgelöst gewesen. Leona, damals ein trauriges, verstörtes Kind, konnte sich noch gut daran erinnern.
Serena Blanchard, eine ausgezeichnete Reiterin, war beim Sprung über eine alte Mauer am oberen Ende des Brookland-Sees unglücklich gestürzt und dabei ums Leben gekommen. Sie hatte die Mauer häufig problemlos übersprungen, aber dieses eine Mal war es schiefgegangen. Später fand man heraus, dass sich das Pferd mit einem Huf in einer Efeuranke verfangen hatte, die die Mauer überwucherte.
Sechzehn Jahre ist sie nun schon tot, dachte Leona traurig. Sechzehn Jahre lebte sie bereits ohne Mutter. Sie erinnerte sich noch, dass Serena sich damals zu ihr hinuntergebeugt und sie geküsst hatte, bevor sie aufgebrochen war.
„Ich bleibe nicht lange fort, mein Liebling. Wenn ich zurück bin, gehen wir alle zusammen schwimmen.“
Sie hatte nicht wissen können, dass sie nicht zurückkommen würde – zumindest nicht lebend.
Serenas Tod hatte die ganze Familie getroffen. Sie war so tief betrauert worden, dass für ihre Nachfolgerin Delia, Paul Blanchards zweite Frau, kaum Liebe übrig geblieben war. Wer hätte Serena auch ersetzen können? Am wenigsten Delia, die den trauernden Paul überrumpelt und ihm ihren kleinen Sohn aufgehalst hatte. Bin ich deshalb bei den Blanchards so beliebt?, fragte sich Leona. Sie gehörte nicht zum Hauptzweig der Familie, aber sie war das Ebenbild ihrer Mutter und genoss wohl deshalb besondere Gunst.
Die hohen schmiedeeisernen Torflügel zu Beginn der über eine Meile langen Auffahrt zum Herrenhaus standen offen. Prächtige Bäume von gewaltiger Höhe säumten sie an beiden Seiten und stießen in ihren Kronen mit den äußeren Zweigen so dicht zusammen, dass sie einen geheimnisvollen goldgrünen Tunnel bildeten.
Minuten später fuhr Leona aus dem Tunnel heraus über die gewölbte Steinbrücke, die den grün schimmernden See überspannte. Er wurde von einem unterirdischen Fluss gespeist, war stellenweise sehr tief und erstreckte sich über mehr als einen Hektar. Hier und dort ragten kleine Inseln aus dem Wasser, auf denen Wildenten und andere
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