Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Anavera verletzt. Sie wollte nicht noch einmal etwas zwischen sie bringen, keinen Augenblick der kostbaren Nacht mehr vergeuden. Vielleicht war die Angelegenheit mit dem Brief ja auch längst erledigt. Die fremde Frau, die mit ihrer Tochter und mit ihrem Leben nichts zu tun hatte, mochte bleiben, wo sie hingehörte, und ihren Plan vergessen.
Sie lagen tatsächlich die ganze Nacht hindurch wach. Ein wenig kam es Katharina vor wie in ihrer Jugend, als ihre Eltern gedroht hatten, Benito totzuschlagen, wenn er ihr noch einmal nahekäme. Heimlich hatten sie sich getroffen und versucht eine Überfülle in knappe gestohlene Stunden zu pressen, alle Zärtlichkeit, alles Begehren, alle Schwüre und Liebeslieder, aber auch jeden Streit, jedes Lachen und Weinen und Gespräche ohne Atempause. So wie damals fühlte sie sich am Morgen, todmüde und gestärkt zugleich.
Sie hatte es immer geliebt, ihm zuzusehen, wenn er sich anzog. Die Sorgfalt seiner Handgriffe rief ihr schmerzlich in Erinnerung, wie hart er sich den gesellschaftlichen Aufstieg hatte erkämpfen müssen. Ein Mann wie er durfte sich keinen Fehler, kein Stäubchen am Revers, keinen schief sitzenden Kragen erlauben, denn den größten, den unauslöschlichen Fehler trug er nach Ansicht seiner Gegner im Gesicht. Den Schnitt seiner Züge und den tiefen Bronzeton seiner Haut.
»Pass auch auf dich auf, mein Liebling«, sagte sie. »Lass nicht jede zweite Mahlzeit aus, an dir ist furchtbar wenig Fleisch. Und jedem, der dich kränkt, kannst du sagen, dass mein Zorn über ihn herfallen und ihn der gefiederten Schlange zum Opfer darbringen wird.«
Ein wenig verloren lächelte er. »Ich will vor allem nicht dich kränken. Diese Sache wegen der Briefe …«
Sie ging zu ihm und nahm sein Gesicht in die Hände. »Vergiss es. Dieses Mal kommst du mir ungeschoren davon. Aber ich warne dich, tu es nicht wieder, oder dir blüht Fürchterliches.«
»Das ist es ja. Ich bin sicher, ich werde es wieder tun. Ich kann dir nicht schreiben, wie sehr ich dich liebe, wenn mein Gewissen dir gegenüber pechschwarz ist. Ich komme mir wie ein Heuchler vor. Aber ohne dir zu schreiben, wie sehr ich dich liebe, kann ich dir überhaupt nicht schreiben, und am liebsten würde ich dich bitten, mir das Fürchterliche schon jetzt zu verpassen, damit, wenn ich zurückkomme, alles abgegolten ist und du mich wieder liebst.«
Sie lehnte sich gegen seine Brust und drückte ihn noch einmal an sich. »Nicht zu fassen, was du für einen Unsinn schwatzen kannst. Und das Schlimmste ist, du meinst das auch noch ernst, nicht wahr?«
Er küsste ihr Haar. »Verzeih mir, Ichtaca. Bitte verzeih mir.«
»Aber ich habe dir doch gar nichts zu verzeihen, du Dummkopf. Reib dich nicht so auf, Benito. Du bist mein Liebster, den ich für das, was er tut, bewundere, auch wenn ich mich nach ihm krank sehne. Dein Gewissen soll den Mund halten und dich schreiben lassen, was du willst.«
Sie warf ihren Morgenrock über, und eng umschlungen gingen sie hinaus auf die Veranda, wo sie über ihr Tal blicken konnten, auf das Grün, das noch unter Nebeln schlief, doch sich allmählich die Nacht aus den Augen rieb und seine tausend Glieder dem Tag entgegenreckte. Frühstücken wollte keiner von ihnen, und zu sagen fiel ihnen nichts mehr ein, weil es eine dieser Stunden war, in denen kein Wort genügte. Sie rührte Zimt und Schokolade in ihren Kaffee, er trank den seinen bitter und schwarz. Dann stand er auf, und sie begleitete ihn bis zum Stall.
»Nicht einmal ein Jüngling würde im Reiseanzug zwei Stunden lang reiten. Du bist unverbesserlich, weißt du das?«
»Ich fürchte, ja. Ich lasse Citlali im Mietstall, ist das in Ordnung?«
»Natürlich. Anavera oder Vicente holen ihn ab.«
»Bitte küss beide von mir und sag ihnen …«
Sie küsste ihn. »Ich weiß schon.«
»Auf Wiedersehen, meine Liebste.«
»Auf Wiedersehen, mein Geliebter.«
Mit jäher Heftigkeit wünschte sie, sie hätte ihm doch von dem Brief erzählt, sie müsste ihn jetzt nicht gehen lassen und allein damit zurückbleiben. Gleich darauf erkannte sie in seinen Augen, dass er ebenfalls wünschte, er hätte ihr etwas erzählt. Beide zugleich öffneten sie den Mund, zögerten kurz und schlossen ihn wieder.
»Was wolltest du sagen?«, fragte er.
»Nichts«, stotterte sie. »Nur, vergiss meine dumme Frage von gestern. Josefa könnte keinen besseren Vater haben als dich.«
»Danke. Auch wenn es nicht wahr ist.«
»Es ist wahr. Und was wolltest du mir
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