Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
kommen?«, fragte sie mit bangem Blick auf das vollbesetzte Parkett und dann auf die leeren Stühle neben ihren.
»Nein«, sagte Jaime. »Ich habe alle Plätze gekauft. Wenn ich mich in ein Theater setze, will ich nicht Volk neben mir haben, das hustet, keucht und seufzt, als ginge es ans Verrecken, oder in seine Taschentücher rotzt.«
Tomás hatte ihr erzählt, dass ein Platz in diesem Theater mehr kostete als die dreißig Pesos, die ein Arbeiter in der Seifenfabrik in einem Jahr für seine Familie verdiente. Was aber gingen sie die Arbeiter in der Seifenfabrik, was ging sie Tomás, was ging die ganze Welt sie an? Jaime ließ Champagner bringen. Das grandiose Licht der Lüster wurde langsam gedämpft, und ehe es ganz verlosch, sah er ihr noch einmal in die Augen. Dann hob sich der Vorhang über einer Zauberwelt.
Wie hatte sie sich fragen können, ob sie die Oper mögen würde? La Traviata, die Geschichte des Mädchens Violetta, das einen Fehltritt beging und dafür die Liebe ihres Lebens verlor, war das Schönste, Herzzerreißendste, was sie je erlebt hatte, und die Stimme der Sopranistin war von einer Süße, die unmöglich der Erde entspringen konnte. Wenn Jaime neben sich keine Menschen haben wollte, die seufzten und in Taschentücher rotzten, hatte er seine Begleitung schlecht gewählt. Josefa wollte sich beherrschen, sie wollte alles tun, um ihm zu gefallen, aber im Rausch der betörenden Melodien war es um ihre Willenskraft geschehen. Als die arme Violetta sterben musste, als die Schwindsucht ihr den Atem raubte und die Kraft ihrer Liebe erstickte, weinte Josefa in Sturzbächen, durchnässte erst ihr Taschentuch, dann das von Jaime und schluchzte zum Gotterbarmen.
Als die Lichter aufflammten, konnte sie kaum glauben, dass sie unter lauter sorglosen, gesunden Menschen in einem Theater saß und nicht selbst gestorben war. Der Applaus hatte die Gewalt von Gewitterdonner. Einzig Jaime hielt die Arme vor der Brust verschränkt und klatschte nicht.
»Ich bedaure, dass Sie das derart aus der Fassung gebracht hat«, sagte er. »Hätte ich gewusst, dass Sie so leicht zu erschüttern sind, wäre ich mit Ihnen ins Puppenspiel gegangen.«
Wie konnte er das von ihr denken? Sie war ihm unendlich dankbar dafür, dass er ihr dieses Geschenk gemacht hatte, und er glaubte, es habe ihr nicht gefallen. Sie beugte sich über die Lehne und warf die Arme um ihn. »Es war wundervoll, es war das Schönste, das mir in meinem ganzen Leben je geschehen wird.«
»Wie bedauerlich«, sagte er, hob spöttisch eine Braue und befreite sich aus ihren Armen, aber er war dabei weder grob noch brüsk. »Dann haben Sie also das Schönste in ihrem Leben schon hinter sich, und alles, was jetzt noch kommt, ist ein schaler Abglanz. Sie werden diesen Abend verfluchen, Doña.«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht«, erwiderte sie. »Ich werde ihn immer aufbewahren, so wie mein Collier, und mich daran erinnern, wie wundervoll das Leben sein kann.«
Er lachte leise, doch wie stets wirkte er dabei nicht froh. Josefa war ihm verfallen, er besaß alle Macht der Welt über sie, und dennoch überfiel sie eine Woge von Mitleid, die sich nur schwer erklären ließ. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts mehr, als ihm ein einziges Mal ein freudiges Lachen oder ein Lächeln, das frei von Schmerz war, zu entlocken.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie und ballte die Fäuste, um ihn nicht noch einmal gegen seinen Willen zu berühren.
Die Sopranistin kam zurück auf die Bühne, trug ein weißes, über den Boden schleppendes Kleid, einen Strauß weißer Kamelien und einen Zierkäfig mit einer weißen Taube. Sie werde noch ein Lied singen, verkündete sie, zum Dank an ihr wunderbares mexikanisches Publikum, ein Lied, das vor bald einem Vierteljahrhundert in diesem Theater uraufgeführt worden sei. Sie öffnete den Käfig, ließ die Taube in den Zuschauerraum flattern und sang La Paloma, die Habanera von der Seele des getöteten Soldaten, die sich in eine Taube verwandelt und an das Fenster seiner Liebsten fliegt.
Josefa kannte das Lied nur zu gut. Ihre Mutter hatte ihr die Geschichte viele Male erzählt. Während der Uraufführung war ihr Vater, der gegen die Besatzungsmacht kämpfte, verhaftet und zum Tode verurteilt worden, und die Mutter hatte nicht mehr als die Länge des Liedes Zeit gehabt, um sein Leben zu retten. Etwas bei der Geschichte ließ sie immer weg. Josefa hatte nie erfahren, wie es ihr schließlich gelungen war, den Vater vor dem Galgen
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