Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
durchgefragt hatte, wie sie an die nötigen Informationen und schließlich an zwei Fahrkarten für die Eisenbahn gelangt war, wollte Franzi wie so vieles vergessen. Nicht vergessen konnte sie hingegen die Fahrt durch das Land, während die Hitze anfangs unmerklich, dann aber spürbar nachließ und die erdrückende Schwüle einer glasklaren Luft wich, die sämtliche Farben zum Leuchten brachte. Nicht noch einmal wollte sie sich von einem ersten Blick in eine trügerische Begeisterung locken lassen, doch auf dieser Fahrt fand sie die endlose Weite, die Matti, der Bettlerfürst, ihr versprochen hatte, die Ebenen, die trotz der Jahreszeit blühten oder in voller Frucht standen, und eine Stille und Menschenleere, die ihr den Atem nahmen. Alles schien größer in Mexiko, der Himmel höher, die Berge darunter gewaltiger, die Schluchten tiefer und die Wälder grenzenloser, als Franzis kleiner Geist es sich je hätte vorstellen können.
Sie wollte sich keiner Illusion mehr hingeben, aber sie konnte nicht verhindern, dass der Anblick des weiten, leeren Landes von Horizont zu Horizont ihre Hoffnungen von neuem weckte. Irgendwo in diesem unbewohnten Land ohne Grenzen musste auch Platz für eine zerzauste Hurentochter aus Tirol sein, die sich nichts wünschte als ihr kleines Stück Frieden.
Chapultepec war wahrhaftig das Paradies, ein schattiger Blütengarten unter Riesenbäumen, weiße Herrenhäuser um einen dunkel glitzernden See und ein Palast auf einem sanften Hügel. Das Paradies aber war Franzi Pergerin nicht bestimmt, und so gab es in dem ganzen Vorort kein Zimmer, das für sie erschwinglich war. An der Art, wie man ihnen Auskunft gab, war leicht abzulesen, dass man auf dieser Insel der Reichen und Schönen auf Mieter ihres Schlags keinen Wert legte. Man schickte sie ihres Weges mit nicht mehr als dem Rat, in den Ostbezirken von Mexiko-Stadt um Quartier nachzusuchen.
Anfangs weigerte sich die Gruberin, das verwunschene Idyll am Seeufer zu verlassen. Sie erklärte, sie fühle sich hier ihrem Neffen nahe, und betrug sich, als würde sie diesem Jungen, den sie nie gesehen hatte, jeden Augenblick über den Weg laufen. Dass man sie in Chapultepec nicht haben wollte, schien ihr Fassungsvermögen zu übersteigen. In ihren Augen gehörte sie noch immer derselben Klasse an wie die Herrschaften, die sich hinter ihren Mauern, Säuleneingängen und vergitterten Fenstern verschanzten und ihre Diener vorschickten, um die Gruberin abzuwimmeln. Ja, sie fühlte sich ihnen sogar überlegen, weil sie dem europäischen Adel entstammte, während die Aristokraten der Neuen Welt von zweifelhafter Herkunft waren.
Als Franzi sie endlich davon überzeugt hatte, dass sie für die Nacht ohne Unterschlupf wären, wenn sie sich nicht auf den Weg machten, gab es keinen Reisewagen mehr, der sie in die Stadt bringen konnte, und sie mussten sich zu Fuß auf den endlosen Weg in die beginnende Dunkelheit machen.
Das aber war erst der Anfang. Auch die Nächte im Freien und das, was nötig war, um an ein Zimmer in einem Viertel namens Tepito zu gelangen, wollte Franzi vergessen. Mexikos Hauptstadt musste ohne Frage die größte Stadt der Welt sein, und sie besaß einen Kern, der nur aus Palästen bestand, aus hohen Häusern mit Türmen und Balkonen, die im saftigen Grün und der Blütenpracht ihrer Gärten in die Tage träumten. Hier waren die Straßen breit, die Kutschen vergoldet, die Kaufhäuser groß wie Kathedralen und ihre Auslagen gefüllt mit allem, was sich ein Menschenherz ersehnen konnte.
Sobald man den Kern jedoch verließ, schwang das Elend seine Geißel, schlimmer als in Veracruz, nur dass es hier nicht so heiß war und der Gestank nicht in Blasen hochkochte. Ihr Zimmer war ein Loch, in dem die Nässe die Wände hochstieg und den fensterlosen Raum mit Geruch nach Moder erfüllte. Vor der Tür trieben ersoffene Katzen in Straßengräben, und vor San Lázaro, der nahen Kirche, verkauften sich Kinder für einen Korb mit drei Eiern. Unter der wunderbar klaren, wie gefilterten Luft siechte eine Geisterstadt der Trostlosigkeit vor sich hin, in der man nur lebte, weil Sterben nicht billiger war.
Hinzu kam, dass das Geld, das die Gruberin ihr zähneknirschend zuteilte, knapp für die horrende Miete reichte, sie damit aber noch immer nichts zu essen hatten. Und alles Essbare kostete in der Hauptstadt gut und gern das Doppelte wie in Veracruz. »Kannst du nicht arbeiten gehen?«, wollte die Gruberin wissen.
»Und als was?«, fragte Franzi zurück.
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