Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
Vom Netzwerk:
verhüllen. An den Schmerz ließ er sie nicht heran. Sie streichelte ihm die Schultern, die sich unter ihren zärtlichen Händen wie zu Stein verhärteten. »Bitte erzähl es mir, Liebster.«
    »Was?«
    »Das von deinem Vetter. Das, was dir so weh tut.«
    »Nichts. Mir tut niemand weh.«
    Sie streichelte ihn weiter, bis er sie unwirsch abschüttelte. »Ich liebe dich.«
    »Das erzählst du mir von früh bis spät wie eine Betschwester über ihrem Rosenkranz. Soll ich über die Litanei noch in Jubel ausbrechen? Wofür hältst du mich? Für einen Bettelmönch?«
    Dass es ihn so sehr danach verlangte, sie zu kränken, traf sie hart, aber in den Nächten, wenn sie ihn in den Armen hielt, war alles wieder heil. Sie würde es aushalten. Wir sind zwei Verletzte, dachte sie, wundgeschlagen, voller Angst, berührt zu werden. Er ist der Einzige, dem ich vertraue, und eines Tages wird meine Zärtlichkeit ihn lehren, auch mir zu vertrauen. Wenn er schlief, liebkoste sie ihn ohne Ende. Irgendwann, das war ihr inniger Wunsch, würde er sich ebenso entspannt und furchtlos von ihr liebkosen lassen, während er hellwach war und ihr mit zärtlichen Blicken zusah.
    Dass ihre Schwester zu Ostern heiraten würde, war ihr bekannt. All den Schriftverkehr, der ihr deswegen aus ihrer Wohnung nachgesandt wurde – die gedruckte Einladungskarte, die Billetts von Martina, die Briefe ihrer Mutter –, warf sie ungeöffnet in den Papierkorb. Die Briefe ihres Vaters ließ sie ins Feuer gleiten und sah zu, wie sie sich erst wölbten, dann verkohlten und endlich zu Staub zerfielen. Zu Anaveras gottverfluchter Jubelfeier würde sie ohnehin nicht reisen.
    Von Anavera selbst kam auch ein Brief. Den in den Papierkorb zu werfen brachte sie aus unerfindlichen Gründen nicht fertig. Verschlossen legte sie ihn in das Tagebuch, das sie als junge Mädchen gemeinsam geführt hatten, und schob es hinter andere Bücher auf ihr Bord.
    Auch einen Brief von Onkel Stefan warf sie nicht sofort weg. Sie öffnete ihn sogar, vielleicht, weil sie Jaime seit drei Tagen nicht gesehen hatte und sich allein fühlte, vielleicht, weil etwas daran rührend war, dass der schüchterne Onkel Stefan ihr schrieb. Was in dem Brief stand, brachte ihr um ein Haar das Herz zum Stocken. Stefan bat sie, die Familie zu besuchen, es sei sehr dringend und gehe um Valentin Gruber. Wie sie vermutlich wisse, sei Valentin Gruber Offizier Maximilian von Habsburgs und Sohn einer Tiroler Baronentochter gewesen. Aus seiner Familie seien noch Verwandte am Leben, und über diese müsse man unbedingt mit Josefa sprechen.
    Wie erschlagen ließ Josefa den Brief sinken. Sie hatte von alledem nichts gewusst, denn ihre Eltern hatten ihr nie ein Wort davon erzählt. Einzig dass ihre Mutter ein Verhältnis mit einem Österreicher namens Valentin Gruber gehabt hatte, der bei Querétaro gefallen sei, hatte sie erfahren dürfen. »Er war ein bildschöner Mann«, hatte ihr Vater gesagt, »galant, bestens erzogen und voller Mut.« Daran erinnerte sie sich, obwohl sie höchstens sechs Jahre alt gewesen sein konnte. Ihre Mutter hatte ihr lediglich erzählt, dass sie Benito Alvarez von klein auf geliebt, verloren und schließlich wiedergefunden hatte, als der Krieg zu Ende war. Sie hätten geheiratet, und Josefa sei als ihr Kind zur Welt gekommen. Als ihr Kind würden sie sie beide für immer lieben, und daraufhin waren all die anderen Lügen gefolgt, von denen Josefa kein Wort mehr hören wollte. Wer Valentin Gruber gewesen war, war nie erörtert, sondern totgeschwiegen worden.
    Was sollte sie jetzt tun? Stefans Brief beantworten? Von der Straße her hörte sie einen Wagen, sprang wie gestochen ans Fenster und sah, dass es Jaime war, der aus der Kabine stieg und dem Diener seinen Zylinder übergab. Drei Tage lang hatte sie sich nach ihm krankgesehnt, und jetzt stand er dort unten auf der Straße, und die Sonne zeichnete Lichter auf sein Ebenholzhaar. Kurzerhand riss sie Stefans Brief in zwei Teile und warf sie in den Papierkorb. Hatte sie nicht genug von Verwandten, von all dem Lügen und Heucheln? Brauchte sie das? Hatte sie nicht Jaime? Sie zog den Vorhang wieder vor und lief die Treppe hinunter, um sich ihrem Liebsten in die Arme zu werfen.
    Wenig später, an einem warmen Abend, etwa drei Wochen vor Ostern, saß sie mit Jaime hinter den verdunkelten Fenstern beim Essen. Die Kerzen in den Leuchtern brannten, verbreiteten gelbes Licht und den Duft nach schmelzendem Wachs, der sich mit dem Bukett des Weins in

Weitere Kostenlose Bücher