Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sie.«
»Wer sind Sie?«, rief Anavera, ehe Stefan ein Wort herausbringen konnte.
»Franzi«, erwiderte das Mädchen trocken. »Ich bin niemand. Aber die Gruberin ist die Tante von der Josefa, nach der Sie suchen.«
»Ich bin Josefas Schwester«, sagte Anavera.
Wahrlich wie vom Donner gerührt starrte das Mädchen Franzi sie an. »Das ist nicht möglich«, stammelte sie.
Vielleicht begriff Anavera in diesem Augenblick zum ersten Mal, was es bedeutete, dass ihr Vater tatsächlich nicht Josefas Vater war. Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Um das alles würde sie sich sorgen, wenn sie mit Josefa gesprochen und Sanchez Torrija gefunden hatte – wenn Josefa und Tomás in Sicherheit waren. »Bitte«, sagte sie zu Onkel Stefan, »kannst du Fräulein Franzi bezahlen, damit sie mich zu Josefa führt? Ich gebe dir das Geld zurück, sobald ich kann. Ach, und kannst du meiner Mutter ausrichten, dass sie sich um mich keine Sorgen machen soll? Ich bleibe bei Josefa, solange sie mich braucht.«
Widerstrebend zahlte Onkel Stefan Franzi ein paar Münzen aus der Ladenkasse aus. »Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?«, fragte er Anavera. »Sollte nicht jemand mit dir gehen?«
»Nein, das muss ich allein schaffen«, sagte sie. »Ich kann von Glück sagen, wenn Josefa überhaupt mit mir spricht. Wenn wir als Horde über sie herfallen, lässt sie uns gewiss nicht einmal durch die Tür.«
Eine gute Stunde liefen sie erst durch breite Avenuen, dann durch ungepflasterte Gassen, ehe Franzi vor einer heruntergekommenen Mietskaserne in einem Viertel namens Carmen haltmachte. Anavera war Armut nicht fremd, doch das Elend, das sie in diesen Straßen erlebte, erschien ihr unendlich trostloser als alles, was sie aus Querétaro kannte. »Es ist nur halb so schlimm, wie es aussieht«, beteuerte Franzi, die ihre Gedanken offenbar erriet. »Die Wohnungen sind alle trocken, es gibt meistens sauberes Wasser, und ab und an trägt auch jemand die Müllberge ab. Da sollten Sie’s einmal weiter im Osten sehen, wo wir gehaust haben, bevor mir Felice Hartmann über den Weg gelaufen ist. Der Müll stank zum Himmel und der Schlamm bis zum Hals. Dagegen ist’s hier wie im Paradies, und wenn ich hier eine Wohnung für mich hätte, ich tät mich nicht beklagen.«
Anavera konnte sich dennoch nicht vorstellen, dass Josefa, ihre elegante, auf Stil und feine Manieren bedachte Schwester, in solch einer Gegend lebte.
»Ich lass Sie jetzt dann alleine«, sagte Franzi. »Fräulein brauchen Sie mich übrigens nicht zu nennen. Aber zu ein bisschen Trinkgeld sag ich nicht nein.«
»Es tut mir leid«, bekannte Anavera, »ich bin eine trottelige Pomeranze, die ohne einen Centavo aus dem Haus gelaufen ist. Ich gebe Ihnen etwas, wenn wir uns wiedersehen.«
»Das sagen sie alle«, bemerkte Franzi resigniert und trollte sich.
Anavera holte tief Luft und machte sich auf den Weg in das hohe, verfallene Haus.
Josefa wohnte in einem einzigen Zimmer mit einem trüben Fenster auf einen Hof, in dem nichts wuchs. Halb hatte Anavera damit gerechnet, auf ihr Klopfen keine Antwort zu erhalten oder hinausgeworfen zu werden. Josefa aber zog die Tür auf, rief »Verita, du« und fiel ihr um den Hals. Behutsam schob Anavera sie ins Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Dann hielt sie sie an sich gedrückt und ließ sie weinen, bis das wilde Schluchzen langsam verebbte.
Ihre schöne Schwester sah furchtbar aus. Ihr Kleid wirkte schmutzig und stand in grobem Kontrast zu dem prachtvollen Jadeschmuck, den sie um den Hals trug. Das Gesicht war bleich und aufgedunsen, das Haar glanzlos, der Leib bis auf die Knochen abgemagert. »Ich kann nicht essen«, entschuldigte sie sich. »Ich gebe alles gleich wieder von mir.«
»Aber Jo, warum wohnst du denn hier?«, rief Anavera entgeistert.
»Ich habe kaum noch Geld«, murmelte Josefa, ging zu einem abgewetzten Sessel, ließ sich hineinfallen und nahm ein Stück Stoff, das über der Lehne hing, in die Hände. »Ich weiß auch nicht, wo es geblieben ist. Wir sind ins Kasino gegangen, dann habe ich Kleider gebraucht und dann die Geschenke für Jaime – es ist mir einfach so durch die Finger geronnen.«
»Aber du hast doch eine Wohnung, in die du gehen kannst. Du hast doch eine Familie.«
Josefa schüttelte den Kopf. »In meine Wohnung gehe ich nicht mehr zurück, denn da würde ich die anderen treffen. Martina, Tomás – ich kann ihnen allen nie wieder unter die Augen kommen. Mir ist niemand geblieben, nur Jaime.«
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