Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
musste eine Himmelsmacht sein, die ihr zu Hilfe kam. Sie stand auf den Stufen, die hinunter auf die Gleise führten, starrte hilflos in die Menge und entdeckte ihn. Einen hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mann in einem Cape, wie es auf diesem Bahnhof Hunderte geben musste – und dennoch hegte sie keinen Zweifel daran, dass es dieser war, nach dem sie suchte. Der schöne Andalusier. Der Teufel. Der prächtige Truthahn der Nacht. Vielleicht erkannte sie ihn von Posadas Karikatur, vielleicht war tatsächlich eine Himmelsmacht am Werk. Der Mann bemühte sich auffällig, zu den übrigen Reisenden Abstand zu halten, und ging drei Schritte vor seinem Kofferträger. Eindeutig strebte er auf einen der wartenden Züge zu. Anavera rannte los.
Sie schoss an ihm vorbei, und in dem Moment, in dem er den Zug besteigen wollte, verstellte sie ihm den Weg. »Ich bin Anavera Alvarez«, rief sie außer Atem, »Josefas Schwester, Benito Alvarez’ Tochter.«
Er blieb stehen und betrachtete sie. »In der Tat«, sagte er, »das ist nicht zu übersehen.«
Dann schwieg er und betrachtete sie weiter, bis Anavera so unbehaglich zumute war, dass sie herausplatzte: »Sie müssen mit mir kommen. Meine Schwester bekommt von Ihnen ein Kind.«
Ganz kurz glaubte sie in seinen hellen Augen Erschrecken zu erkennen. Dann warf er den Kopf zurück und lachte auf. Anavera, der Josefas Weinen noch in den Ohren hallte, verspürte schon in diesem Moment den Wunsch, ihn zu schlagen. Sie hatte klug vorgehen wollen, aber dazu war sie zu durcheinander und erregt. Ohne Beherrschung schleuderte sie ihm alles ins Gesicht, erst Josefas Elend, dann das von Tomás, der kein Mörder war, sondern einer der feinsten Männer, die sie kannte. »Was hätten Sie getan, wenn man Ihren Freund zu Unrecht ins Gefängnis geworfen hätte? Tomás hat niemanden verletzt, niemanden angegriffen, er hat nur mit seinen eigenen Mitteln gegen die Verletzung der Pressefreiheit protestiert.«
Was sie alles gesagt hatte, wusste sie nicht mehr. Erst als die Worte ihr ausgingen, schwieg sie. Sanchez Torrijas Sohn sah sie noch immer an, als wäre er nicht ganz sicher, was für einer Gattung sie angehörte. »Sehr unterhaltsam«, bemerkte er endlich. »Und jetzt lassen Sie mich bitte vorbei, denn ansonsten verpasse ich meinen Zug.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie können mit diesem Zug nicht fahren!«
»Ich habe es zur Kenntnis genommen«, erwiderte er. »Gehen Sie mir aus dem Weg.«
Als sie seiner Aufforderung nicht nachkam, schob er sie kurzweg mit dem behandschuhten Handrücken beiseite und bestieg den Zug. Sein Cape streifte über ihr Gesicht. Zorn packte sie. Sie sprang hinter ihn in den Zug und riss ihn am Cape zu sich herum. »Haben Sie denn überhaupt kein Gewissen?«, schrie sie.
»Fragen Sie meinen Diener, ich führe über mein Gepäck nicht Buch«, sagte er.
Gleich darauf setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung. Unaufhaltsam wie ein Blitzstrahl schoss er mit Anavera an Bord aus der Bahnhofshalle.
30
M artina hatte recht, die ganze Stadt sprach davon. Katharina hätte an Josefa, Tomás, Anavera und den halben Rest der Welt denken sollen, aber es gab nur eines, an das sie zu denken vermochte, wieder und wieder: Mein Mann betrügt mich. Mein Mann, den ich mit allem, was mich ausmacht, liebe, liebt eine andere als mich.
Die starken Säulen, auf denen ihre Welt gestanden hatte, waren zerbrochen, und ihre Welt kugelte haltlos durch ein leeres Universum.
Sie kannte ihn ihr Leben lang. Sechs Jahre alt war er gewesen, als ihr Vater ihn und seinen Bruder in Dienst genommen hatte, und in ihrer Erinnerung hatte sie ihn vom ersten Tag an geliebt. Gab es irgendetwas, das er für diese Liebe nicht getan hatte? Er hatte sich halbtot prügeln und um ein Haar erschießen lassen, und als es ihrer Familie endlich gelungen war, sie zu trennen und Mexikos atemberaubende Weite zwischen sie zu legen, hatte er sie weitergeliebt. Fünfzehn Jahre lang. Er war durch einen Fluss in eine von Feinden belagerte Stadt geschwommen, um sie zu befreien, obwohl er wusste, dass sie dort mit einem anderen lebte. Sie hatte vor ihm gestanden und gedacht: Wie habe ich jemals annehmen können, ich wäre in der Lage, einen anderen zu lieben? Wie völlig absurd ist das? Nur dieser ist mein. Er hatte sie mit Valentins Kind im Bauch in seine Arme genommen, in sein Haus und in sein Leben, und seither hatte er sie Tag für Tag so innig, so voller Feuer und so beständig geliebt, dass ihre Verletzungen
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