Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Worte. Nichts war darin. Nur der Kuss.
Solange der Regen stürmte, küssten sie sich. Pressten die nassen Leiber, so fest sie konnten, aneinander. Wasser aus seinem Haar rann über ihr Gesicht und vermischte sich mit dem Wasser aus ihrem. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie Atem schöpfte. Als der Regen schwächer wurde, erfasste sie Angst, dass die Welt zerspränge, wenn der Kuss zu Ende wäre. Als aber der Regen sich gänzlich gelegt hatte und ihre Lippen auseinanderglitten, umfasste er ihr Gesicht mit den Händen und hielt es fest. Seine Finger streichelten in winzigen Kreisen ihre Wangen, und seine Lippen formten lautlos ihren Namen. Silbe um Silbe. »A-na-ve-ra.«
Noch immer war in ihrem Kopf kein Wort wie Reue oder Schuld. Es war, als gäbe es außer ihnen keinen Menschen, niemanden, den sie verletzen konnten, niemanden, dem sie etwas schuldeten.
»Jaime«, sagte sie.
Er zog sie noch fester an sich, küsste ihr die Lider, die Lippen und die Linie des Kiefers und stöhnte dunkel auf. Sie verstand ihn und küsste ihm den Hals, strich das nasse Hemd beiseite und küsste seine Schulter entlang. Sie wollte mehr. Alles. Sie wollte ihn lieben.
Seine Augen stellten eine Frage, ehe seine Hände an ihrem Hals hinunterglitten und begannen ihre Bluse zu öffnen. Zur Antwort küsste sie ihn hart, grub ihre Zähne in den festen Muskel seiner Brust.
»Anavera. Anavera.«
»Jaime.«
Keine Liebesworte. Nur ihre Namen zwischen fassungslosen Atemzügen.
Dann brach das Geschrei los, so plötzlich wie zuvor der Regen. Vier Männer auf einmal sprangen hinter Jaimes Rücken, packten ihn an Hüften und Schultern und rissen ihn aus ihren Armen.
39
D olores hatte es ihr gesagt, Jaime war nicht mehr in der Stadt. Er war nach Yucatán gefahren, wie er es vorgehabt hatte, und wo Anavera war, wusste kein Mensch. Wenn Anavera mich betrogen hat, wenn sie nie vorhatte, Jaime zurückzuholen, ist es nur gerecht, dachte Josefa. Ich habe ihr ihren Liebsten genommen. Wird Tomás gehängt oder stirbt er im Gefängnis, so ist es meine Schuld. Ich habe ihn verraten.
Sie war krank vor Schwäche und stand aus dem Bett kaum mehr auf. Ohne Franziska wäre sie vielleicht gestorben. Franziska tat alles für sie, wusch sie, wechselte ihr verschwitztes Bettzeug, brachte ihr in kleine Bissen geschnittenes Essen und bettelte so lange, bis Josefa einen oder zwei davon schluckte. Sie hielt ihr die Tante vom Leib. Um der Tante gegenüberzutreten und die perfekte Nichte zu spielen, die sie so gern für sie sein wollte, besaß sie nicht die Kraft. »Lass sie nicht zu mir«, beschwor sie Franziska. »Leg das Schloss immer vor.«
»Sie hat ihren Neffen gepflegt«, wandte Franziska ein. »Der hatte das Bluten und war nicht mehr als ein Skelett, sah viel schlimmer aus als du. Sogar der Herr Doktor hat sich gefürchtet, aber der Gruberin hat’s nichts ausgemacht.«
Josefa bestand dennoch darauf. Sie wollte der Tante, die das Ebenbild ihres Vaters in ihr sah, nicht hässlich und elend gegenübertreten. Die Tante hatte ihr eine Fotografie des Vaters in der Uniform der Kaiserjäger geschenkt. Schön und voll Stolz sah der fremde Vater ihr entgegen. Sie wollte seiner würdig sein, wollte diesen prächtigen, heldenhaften Vater nicht enttäuschen.
Auch einen Besuch ihrer Eltern lehnte sie vehement ab. Therese und Valentin Gruber waren jetzt ihre Familie. Sie konnte nicht beide behalten. Vor allem aber durften ihre Eltern nie erfahren, dass sie es gewesen war, die Tomás dem Henker ausgeliefert hatte. Für die Eltern wäre es besser, wenn sie aus ihrem Leben verschwand und sie vom Verrat ihrer Tochter nichts ahnten. Irgendwann würde sie auch die Kraft finden, den schief gewebten Rebozo und die mit Samt bespannte Schachtel von ihrem Nachttisch wegzuräumen. Sie nahm Franziska das Versprechen ab, die Eltern nicht in die Wohnung zu lassen.
Nach einer Woche kam Dolores wieder, setzte sich zu Josefa aufs Bett und sagte: »Ich habe noch eine schlimme Nachricht für dich. Du musst jetzt stark sein. Das ist, wie wenn man eine Wunde ausbrennt – es tut scheußlich weh, und eine Narbe bleibt übrig, aber je gründlicher man es macht, desto vollkommener ist man hinterher den Ärger los. Deine Schwester hat ein Telegramm geschickt. Es gab ein paar Probleme bei der Übermittlung, weil El Norte die Leitungen beutelt, aber letztlich ist es doch noch eingetroffen. Die Suchaktion kann abgebrochen werden. Deine Schwester ist in Yucatán. Alles deutet darauf hin, dass sie mit
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