Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Wagengliedern mit einem Ruck zum Stehen. Sie waren am Ziel. Ciudad de Mexico verkündete ein weiß bemaltes Schild, und darüber hing Mexikos Fahne mit dem Kaktus, der Schlange und dem Adler schlaff am Mast. Josefa schlang die Arme um den Leib. Am liebsten hätte sie sich irgendwo versteckt, bis der Zug wieder angefahren wäre und sie zurück in die schwarzen Wälder von Querétaro gebracht hätte.
»He, Faulpelz, willst du mir nicht mit den Koffern helfen?« Martina hatte bereits das Fenster heruntergeschoben und einen der Cargadores herangewinkt, dem sie das erste Gepäckstück zureichte. Das zaundürre Männlein, das aussah, als würde es unter der geringsten Last zusammenbrechen, trug ein hölzernes Joch über den Schultern, an dem es Martinas Koffer geschickt festknüpfte. Flugs wuchtete Martina das nächste Stück aus der Gepäckablage, während Josefa noch immer reglos stand und in die wogende Menge starrte. Menschen jeglicher Größe, Statur und Hautfarbe schienen auf diesem Bahnsteig versammelt, und auch jeder gesellschaftliche Stand war vertreten. Neben vornehmen bleichgesichtigen Herren mit Zylindern drängten sich barfüßige Jungen, die für einen Centavo auf die braune Hand ihre Dienste als Stadtführer anboten. Hier verschafften Tournüren üppiger Matronen sich Raum, während dort eine Greisin, nicht größer als ein Kind, einen kollernden Truthahn durch die Horden trieb.
Jeder, der sich in dieser quirligen Masse bewegte, schien zu wissen, wohin er gehörte, und jeder, der aus den Türen des Zugs herausquoll, hatte einen, der ihn erwartete. War Josefa die Einzige, die fremd war und es bleiben würde? Just in diesem Moment ragte ein Kopf aus der Menge, gefolgt von zwei Armen, die wie Dreschflegel winkten. Der junge Mann, der auf eine Kiste gestiegen war, hatte auffällig helles Haar zu brauner Haut, und seine Stimme war unverkennbar. »Hola, schönste Rose von Querétaro! Willkommen in unserer bescheidenen Stadt.«
Tomás. Über Köpfe hinweg warf er ihr eine Kusshand zu, sprang von der Kiste und bahnte sich seinen Weg zu ihrem Wagen.
Martina lachte. »Nun sieh dir das an, wir bekommen ein Empfangskomitee.«
Vor Erleichterung hätte Josefa singen wollen. Tomás war da, und er war ihr nicht mehr böse, sie war in der fremden Stadt nicht allein. Erst jetzt sah sie, dass ihm eine kleine Abordnung von Männern folgte. Onkel Felix, Martinas Mann, erkannte sie sofort, und gleich darauf den hageren Onkel Stefan, den ältesten Vetter ihrer Mutter, der die Casa Hartmann, das Handelshaus ihrer Familie, leitete. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war im grauen Haar noch Blond gewesen, aber sein Lächeln war so jungenhaft schüchtern wie eh und je. Ihr Empfangskomitee, so fand Josefa, war das netteste des ganzen Bahnhofs.
Unter den zwei blassen Deutschen und dem fast blonden Tomás wirkte der vierte Mann wie aus einer anderen Welt. Oder noch eher wie aus versunkener Zeit, aus der von Mythen umwobenen Epoche, in der die Stadt Tenochtitlán geheißen und auf einer Insel im Tenoxo-See gestanden hatte, beherrscht vom kriegerischen Volk der Mexica, die die Eroberer Azteken nannten. Der dunkelhäutige Mann hatte etwas Ungezähmtes an sich, trotz der europäischen Eleganz, mit der er gekleidet war. Er war schon lange nicht mehr jung, aber er vergaß es. Mit einem Satz sprang er auf den Tritt unter dem Wagenfenster, riss sich den Hut herunter und steckte den Kopf ins Abteil. »Meine Josefa«, sagte er sehr leise, als müsste er sich erst vergewissern, dass er nicht träumte. »Huitzilli. Kleiner Vogel mit den tausend Flügelschlägen.« Er sprach Nahuatl, wie er es in ihrer Kindheit mit ihr gesprochen hatte.
Martina kicherte wie ein Schulmädchen. »Sie benehmen sich schamlos, Señor Gobernador. Ihretwegen haben wir bereits die Aufmerksamkeit des gesamten Bahnhofs auf uns gezogen.«
Josefas Vater hob den Kopf und lächelte ihr mit seinen funkelnden Augen entgegen. »Umso besser. Siehst du hier vielleicht eine, die die Aufmerksamkeit mehr verdient?«
Martina trat vor das Fenster, nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn ungehemmt auf den Mund. »Woher wusstet ihr denn, dass wir heute kommen?«
»Wir wussten gar nichts. Wir passen seit drei Tagen alle Züge aus Querétaro ab.«
»Hat dir in letzter Zeit mal jemand gesagt, dass du völlig verrückt bist, mein Süßer? Jetzt geh mir aus dem Weg, ich verliere diesen Cargador mit unserem Gepäck aus den Augen.«
»Um das Gepäck kümmert sich Tomás.
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