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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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Dennoch war ihr bewusst, dass Martina sie nur mitnahm, um der Mutter einen Gefallen zu tun, und dass sie Anavera lieber mochte als sie.
    War Josefa ehrlich, so konnte sie Martina verstehen. Sie selbst hätte Anavera auch lieber gemocht. Anavera war herzlich, voller Wärme und Lebensfreude, und sie war nicht im mindesten kompliziert. Ein Teil von Josefa vermisste sie. Seit jener grauenhaften Festnacht hatte sie kein Wort mehr mit ihr gesprochen, und Anaveras Versuche, die Kluft zu überbrücken, hatte sie zurückgewiesen.
    Dabei hatte Josefa streng genommen nicht einmal Grund, ihr böse zu sein, denn Anavera hatte ihr ja nichts getan. Sie hatte ein Feuerwerk bestaunt, das Josefa nicht hatte sehen wollen, und eine Torte zerschnitten, die Josefa nicht angerührt hätte. Der Gedanke fachte ihren Groll noch an. Anavera tat niemandem etwas, sie war das Unschuldslamm, das in ihrer Brust keinen finsteren Gedanken hegte und des Nachts zur Heiligen Jungfrau betete. Josefa vermisste sie, aber zugleich wünschte sie ihr Übles an den Hals. Einerlei, was es war – nur ein Ereignis, das die tugendsame Jungfer straucheln und ein einziges Mal etwas Schlechtes tun ließ.
    Nach dem schweren Essen rollte Martina sich in ihrem Sitz zusammen und schlief kurz darauf ein. Beim Atmen schnorchelte sie leise und strahlte einen Frieden aus, um den Josefa sie beneidete. In ihr selbst herrschte Aufruhr, tausend Fragen stürmten mit dem Geratter der Räder auf sie ein. Was würde sie tun, wenn sie in der Hauptstadt ankamen, wo würde sie heute Nacht schlafen, in Martinas Palais oder in der wildfremden Wohnung, die von Rechts wegen ihr gehörte? Wie würde Tomás sie empfangen, der ihr vor seiner Abreise unmissverständlich klargemacht hatte, was er von ihr und ihrem Auftritt hielt? Was wollte sie mit ihrem Leben anfangen, jetzt, da ihre Kindheit hinter ihr lag? Die paar kümmerlichen Artikel in ihrer Reisetasche – würde überhaupt ein Mensch auch nur einen Blick darauf werfen?
    Vor allem aber und immer wieder: Würde es den Vater scheren, dass sie da war? Die Mutter hatte ihm gewiss von ihrem Kommen geschrieben – würde er versuchen, sich mit ihr zu treffen, und wenn ja, wie sollte sie reagieren? Weshalb dachte sie ständig an ihn, obwohl sie beschlossen hatte, ihn bei einem Namen, der ihm nicht zukam, auch nicht mehr zu nennen? Er war nicht ihr Vater. Und letzten Endes hatte er ihr gezeigt, dass er trotz allen Geredes auch keinen Wert darauf legte, ihr Vater zu sein.
    Wie von selbst glitt ihr Blick hinunter auf den Reifen um ihr Gelenk. In das schwere rote Gold waren Bildsymbole der aztekischen Schrift graviert, die von den spanischen Eroberern verboten worden war, noch ehe sie sich ganz entfalten konnte. Von den Codices, die in dieser Bilderschrift von der Geschichte des Mexica-Volkes erzählte, war nur eine Handvoll den Feuern der Kolonialherren entronnen. Ihr Vater hatte den Reifen aus Gold aus Monte Alban fertigen lassen, um ihre Taufe zu feiern, und ihn ihr übergestreift, sobald sie groß genug war, ihn zu tragen. Die Schrift gab einen Vers des aztekischen Dichters Netzahualcoyotl wieder:
    »Ich hebe zu singen an.
    Lass mein Lied aufsteigen zu Ihm, durch den alle leben.«
    Die uralten Worte sollten den mexikanischen Teil ihres Erbes symbolisieren – aber hatte dieses Erbe mit ihr auch nur das Geringste zu tun?
    Sie wollte sich mit der Frage nicht länger quälen, sondern zwang sich, aus dem Fenster zu schauen, vor dem die Landschaft vorüberflog. Die Weite des Landes war ihr auf früheren Reisen nicht aufgefallen. Schier endlos erstreckten sich Ebenen, in denen, so weit das Auge reichte, keine menschliche Behausung stand. Dann wieder schlängelte sich das Band der Gleise durch Täler wie Nadelöhre, an deren Hängen haushohe Feigenkakteen ihre stachligen Arme in den Himmel reckten. Ab und zu hielt der Zug an einer Hacienda, die ihre Verladestation direkt am Schienenweg aufgeschlagen hatte. Auch diese Stationen wirkten merkwürdig verlassen, allein auf weiter, leerer Flur. Ein paar Männer luden mächtige Holzfässer in einen der Güterwagen, und sogleich fuhr der Zug wieder an.
    »Was wird hier verkauft?«, hatte Josefa vorhin Martina gefragt, weil sie sich wunderte, dass an allen Stationen dieselben Fässer aufgeladen wurden.
    »Balsam der Wehmut«, hatte Martina mit einem verhangenen Lächeln geantwortet. »So nennt die Hauptstadt den Pulque, nach dem sie giert, um nicht an sich selbst zu verzweifeln. Solche rauhen Mengen, wie

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