Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Und aus dem Weg gehst du mir, damit ich meine Tochter bewundern kann.«
Martina klopfte ihm die Wange und trat beiseite. Der Vater verschränkte die Arme auf dem Sims, um sich auf dem Wagen zu halten, und sah Josefa geradewegs an. »Bitte verzeih mir«, sagte er. »Ich liebe dich.«
Durch das Abteil sprang Josefa zu ihm und klammerte sich an seinen Schultern fest. Der Vater, der keine Hand frei hatte, streichelte ihre Wange mit der seinen und flüsterte ihr die Flut von Nahuatl-Koseworten ins Ohr, mit der er sie als Kind getröstet hatte. Dann rollte er die Schultern, um sich zu befreien, ließ sich vom Wagen gleiten und streckte ihr die Arme entgegen. Josefa beugte sich vor, er packte sie unter den Achseln und hob sie aus dem Fenster. Applaus brandete auf, als er sie vor sich auf den Boden stellte und ihr mit einem Finger, der ein wenig zitterte, ein Kreuz auf die Stirn zeichnete.
Josefa lehnte sich gegen ihn und atmete den Zauber, der sie auffing, ein. Dieser Bahnhof roch nach dem Vanillemark und den Chilischoten, die Carmen auf dem Kohleofen im Hof kandierte, und ein wenig nach dem Ziegenstall, der gleich nebenan lag. Ins Gemisch der Sprachen und Stimmlagen schnitten das Pfeifen der Züge und das Geschrei verladener Tiere. Vorbeihastende Menschen rempelten gegen sie, doch sie fühlte sich in den Armen ihres Vaters beschützt. Felix und Martina redeten auf ihn ein, aber er hatte nur Augen für sie. »Ja, ich verzeihe dir«, sagte sie. Was geschehen war, kam ihr auf einmal so klein vor, so völlig bedeutungslos.
»Schicken wir das Gepäck nach Hause und gehen essen?«, fragte Martina. »Ich komme vor Hunger um. Dieses Geratter im Zug macht meinen Magen zum gefräßigen Tier.«
»Dein Magen ist ein gefräßiges Tier«, sagte Felix und bot ihr den Arm. »Was meint ihr, bekommen wir im Concordia noch einen Tisch?«
»Das Concordia übersteigt meine Verhältnisse«, wandte Onkel Stefan schüchtern ein. »Bei uns in der Calle Caldena ist eine nette Cantina, die ausgezeichneten Käse serviert.«
Felix patschte ihm auf den Rücken. »Erspare uns deine nette Käse-Cantina. Wir laden dich ein – Josefas Ankunft muss in großem Stil gefeiert werden.«
»Käse in der Calle Caldena klingt ziemlich paradiesisch«, murmelte der Vater sehnsüchtig. »Ich wünschte, ich könnte einen einzigen Abend verbringen, ohne den Herrschaften, die sich im Concordia sammeln, zu begegnen.« Die anderen aber hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, und der Vater reichte Josefa seinen Arm und schloss sich an.
Es war ein Stück vom Himmel. Sie nahmen zwei grün lackierte, mit Rappen bespannte Wagen und schwebten durch die vor Leben blitzende Stadt. Das Concordia hatte mannshohe Fenster mit Blick auf die Calle Plateros, in der sich die Nachtschwärmer tummelten. Es steckte bis auf den letzten Platz voller Menschen, die den Vater begrüßten und ihn am Rock zupften, als wäre er ihr Eigentum. Er lächelte mehr, als er sprach, doch er stellte einem jeden Josefa vor: »Das ist meine Tochter, Josefa, meine Erstgeborene. Sie ist heute aus Querétaro gekommen.«
Die vielen Namen und Gesichter wirbelten durcheinander, und die Komplimente stiegen ihr zu Kopf. Jemand drückte ihr ein Glas in die Hand, füllte es fortwährend nach, und als endlich ein Tisch frei wurde und sie ihr Essen bestellen konnten, war sie satt vom Champagner. Die Übrigen redeten erregt von Miguel, der noch immer in dem berüchtigten Gefängnis Belem einsaß. Sooft jemand an den Tisch trat, senkten sie eilig die Stimmen. Josefa saß dabei, hörte zu und genoss. Sie war, wo sie immer hatte sein wollen, im Herzen des Geschehens, dort, wo das Blut ihres Landes pulsierte, und ihr Vater war bei ihr und würde ihr auf den Weg helfen.
»Was denkt ihr übrigens von diesen Wandgemälden?«, fragte Stefan zwischen zwei winzigen Bissen von den Kalbsmedaillons, die Felix ihm bestellt hatte. »Ich hoffe nur, dass die ganze Aufregung darum Señor Ximenes’ Lage nicht noch heikler macht. Mein Kunde aus dem Finanzministerium hat mir heute erzählt, der Präsident wäre überzeugt, hinter den Malereien würden Leute von El Siglo stecken.«
»Was denn für Malereien?«, fragte Martina und warf ihrem Mann einen misstrauischen Blick zu.
Felix hob die Hände. »Ich bin unschuldig, meine Holde. Seit deiner Abreise habe ich meine Nächte brav in meinem Bett verbracht und den Spuk nicht einmal zu Gesicht bekommen. Angeblich zieht des Nachts ein kunstliebendes Gespenst durch die Gassen und
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