Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
diese Stadt an Pulque braucht, können die Bauern im Umland kaum heranschaffen, selbst wenn sie auf allen Feldern Agaven ziehen und ihnen das weiße Herzblut aus den Adern suppen lassen.«
Auf einmal erschien Josefa die Einsamkeit, die sie wie die langsam wachsende Bergkette umfasste, bodenlos. Wie viele Stunden waren sie schon auf dem Weg, wie viele menschenleere Meilen schon von Querétaro entfernt? Das Land, in das sie einfuhren, war ohne Zweifel schön, seine Maisfelder leuchtend, seine Seen spiegelnd in glasklarer Luft und seine Berghänge silberblau, doch es war ein fremdes Land und wies Josefa ab. Als sie jäh die zwei Bergriesen an ihrer Seite aufragen sah, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Wie durften Berge so hoch sein, dem Himmel und seinen ungelösten Rätseln so viel näher als der Erde und den winzig kleinen Menschen? Weiß glitzerten ihre Gipfel in furchterregender Höhe, doch ob es Nebel waren, die sie einhüllten, Wolken oder Rauch von magischen Riten, ließ sich mit Menschenaugen nicht erkennen. Den ganzen Tag über hatte Josefa im Abteil geschwitzt, aber jetzt ließ die Kälte sie schaudern. Die Sonne ging unter, als hätten die gigantischen Berge sie verschluckt.
Eine Erinnerung brach sich Bahn, drängte sich in ihre Verlassenheit. Als Kind war sie hier entlanggefahren, so viel langsamer als heute, und der Vater hatte sie auf seine Knie gehoben, damit sie aus dem hohen Fenster des Reisewagens schauen konnte. Er hatte ihr erzählt, dass die beiden Berge Popocatepetl und Iztaccihuatl hießen und Liebende waren, Zwillingsvulkane, der zur Rechten ein schlummerndes Mädchen und der zur Linken ein jugendlicher Held, der auf ewig Flammen in den Himmel spie, weil er vor Liebe zu seiner Schönen innerlich verbrannte. Warum tröstete sie die alte, kindische Geschichte? Josefa wusste es nicht, aber sie schloss die Augen und fühlte sich ein wenig leichter.
Als sie wieder zu sich kam, war auch Martina wach und hatte die Lampe angezündet, die das Abteil in gelbes Licht tauchte. Die übrigen Reisenden begannen ihr Gepäck aus der Ablage und hinaus auf den Gang zu zerren. Draußen war es nahezu dunkel, nur als Schemen erkennbar flogen Reihen von Gebäuden vorbei. Sie fuhren nicht länger durch endlose, unbewohnte Weite, sondern mitten durch menschliche Siedlungsgebiete. Josefa reckte sich und sah, dass in kurzer Entfernung Lichter wie Sterne durch die Nacht glänzten und dass dort, im Herzen der Stadt, noch hellwaches Leben pulsierte. »Wir sind da?«, sagte sie mit klopfendem Herzen zu Martina.
Die nickte und stopfte ein paar Sachen zurück in ihre Reisetasche. »Willkommen in Mexiko-Stadt, erbaut auf den Ruinen des mächtigen Tenochtitlán. Ist dir eigentlich klar, dass du genau im richtigen Moment in unsere Hauptstadt einmarschierst? Nirgendwo wird der Tag der Unabhängigkeit so verrückt gefeiert wie hier.«
Dass morgen der 16. September war, hatte Josefa völlig vergessen. Mein rotes Kleid, fiel es ihr siedend heiß ein. Wenn hier morgen ein Fest gefeiert wird, muss ich jemanden finden, der mir mein rotes Kleid aufbügelt. Sie hatte es in ihren Koffer gestopft, weil es das schönste Kleid war, das sie je besessen hatte, im Grunde das einzige, das für die Hauptstadt taugte. Die Frau, die es auf der Abbildung des Schneidersalons trug, sah genauso aus, wie Josefa sich in ihren kühnsten Träumen selbst sah – eine Dame von Welt, faszinierend, geistreich und ein bisschen verrucht. Jetzt aber war das herrliche Kleid vermutlich nicht mehr als ein trauriges Bündel zerknitterter Seide. Wohin ging man, um in Mexiko-Stadt etwas bügeln zu lassen? Sie wusste gar nichts und kam sich weltfremd und verloren vor.
Die Stadt baute derweil ihre immer höheren, immer imposanteren Fassaden, ihre Türme und Kuppeln vor ihr auf. Ringsum glomm Licht, und auf den Straßen waren Trauben von Menschen unterwegs, die sich in den Schluchten zwischen den Riesenhäusern sichtlich zu Hause fühlten. Was hatte sie bewogen, hierherzukommen, in eine Stadt, der eine Landpflanze wie sie nicht gewachsen war? Als ob die Stadt sie verschlänge, so kam es ihr vor – nur um sie binnen kurzem wieder auszuspeien, weil der Bissen ihr zu klein und ohne Würze war.
Mit einem fauchenden Laut, der in den Ohren gellte, tauchte der Zug in einen gläsernen Tunnel. Jäh war es um sie taghell, und Menschen scharten sich vor den Fenstern, als wollten sie nach ihnen greifen. Noch einmal fauchte die große Lokomotive auf, dann kam der Wurm aus
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